Das Arbeitszeugnis – ein vermeintlich neutrales Dokument, das Ihre berufliche Laufbahn zusammenfasst und zukünftigen Arbeitgebern einen Eindruck von Ihren Fähigkeiten und Ihrer Leistung vermitteln soll. Doch hinter den wohlwollenden Formulierungen und lobenden Worten können sich versteckte Codes verbergen, die Ihre Chancen auf eine neue Stelle erheblich beeinflussen können. Dieser Artikel hilft Ihnen, diese Geheimcodes zu entschlüsseln und ein Arbeitszeugnis richtig zu interpretieren.
Warum gibt es überhaupt Geheimcodes im Arbeitszeugnis?
Die Antwort liegt in der Gratwanderung zwischen der rechtlichen Verpflichtung, ein wahrheitsgemäßes Zeugnis auszustellen, und dem Wunsch, den ehemaligen Mitarbeiter nicht unnötig zu schaden. Arbeitgeber sind verpflichtet, ein wohlwollendes Zeugnis auszustellen, das die berufliche Zukunft des Arbeitnehmers nicht beeinträchtigt. Direkte Kritik oder negative Äußerungen sind daher tabu. Um dennoch eine differenzierte Bewertung abzugeben, greifen viele Arbeitgeber auf indirekte Formulierungen und bestimmte Stilmittel zurück.
Die Struktur eines Arbeitszeugnisses: Was verrät sie uns?
Ein vollständiges Arbeitszeugnis besteht in der Regel aus folgenden Elementen:
* **Überschrift:** Sie gibt an, um welche Art von Zeugnis es sich handelt (z.B. Endzeugnis, Zwischenzeugnis).
* **Personalien:** Name, Geburtsdatum, Position und Beschäftigungszeitraum des Arbeitnehmers.
* **Aufgabenbeschreibung:** Eine detaillierte Auflistung der Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten des Arbeitnehmers.
* **Leistungsbeurteilung:** Die zentrale Aussage des Zeugnisses, die die Qualität der Arbeitsleistung bewertet.
* **Verhaltensbeurteilung:** Beschreibung des Umgangs des Arbeitnehmers mit Kollegen, Vorgesetzten und Kunden.
* **Schlussformel:** Dank, Zukunftswünsche und Bedauern über das Ausscheiden des Mitarbeiters.
* **Ort, Datum und Unterschrift:** Die Unterschrift des Arbeitgebers oder eines bevollmächtigten Vertreters.
Achten Sie auf die Vollständigkeit dieser Elemente. Fehlen wesentliche Bestandteile, kann dies ein Warnsignal sein.
Die wichtigsten Codes und Formulierungen im Detail
Die Leistungs- und Verhaltensbeurteilung sind die Kernstücke des Zeugnisses und bergen das größte Potenzial für versteckte Botschaften. Hier einige Beispiele:
* **”Stets zur vollsten Zufriedenheit”:** Dies ist die Bestnote (Note 1) und bedeutet, dass der Arbeitnehmer herausragende Leistungen erbracht hat.
* **”Stets zur vollen Zufriedenheit”:** Entspricht der Note 2 und bescheinigt eine sehr gute Leistung.
* **”Zur vollen Zufriedenheit”:** Note 3, eine durchschnittliche Leistung.
* **”Zur Zufriedenheit”:** Note 4, unterdurchschnittliche Leistung.
* **”Im Großen und Ganzen zur Zufriedenheit”:** Note 5, mangelhafte Leistung.
* **”Er/Sie hat sich bemüht”:** Eindeutige negative Aussage. Der Mitarbeiter war zwar motiviert, aber seine Leistungen waren unzureichend.
* **Passivkonstruktionen:** Sätze wie „Die Aufgaben wurden erledigt” anstatt „Er/Sie erledigte die Aufgaben” deuten auf mangelnde Eigeninitiative hin.
* **Einschränkende Zusätze:** Formulierungen wie „Er/Sie war im Rahmen seiner/ihrer Fähigkeiten…” oder „Er/Sie zeigte Engagement, wenn es um…” sind Warnsignale für Schwächen in bestimmten Bereichen.
* **Auslassen von Selbstverständlichkeiten:** Wird beispielsweise bei einem Vertriebsmitarbeiter die Akquise neuer Kunden nicht erwähnt, deutet dies auf Schwächen in diesem Bereich hin.
* **Reihenfolge der Nennung von Stärken und Schwächen:** Werden Schwächen vor den Stärken genannt, werden diese stärker gewichtet.
* **”Er/Sie war pünktlich und fleißig”:** Diese Formulierung kann negativ interpretiert werden, da sie impliziert, dass dies die einzigen positiven Eigenschaften des Mitarbeiters waren.
Die Verhaltensbeurteilung: Soziale Kompetenzen unter der Lupe
Auch in der Verhaltensbeurteilung gibt es Codes:
* **”Sein/Ihr Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen war stets einwandfrei”:** Dies ist die Standardformulierung für ein gutes Sozialverhalten.
* **Wird der Umgang mit Kollegen vor dem Umgang mit Vorgesetzten genannt:** Kann ein Hinweis darauf sein, dass das Verhältnis zum Vorgesetzten angespannt war.
* **Fehlt die Erwähnung des Verhaltens gegenüber Kunden/Geschäftspartnern:** Bei Kundenkontakt ist dies ein Warnsignal.
* **”Er/Sie war gesellig”:** Kann bedeuten, dass der Mitarbeiter zu viel Zeit mit privaten Gesprächen verbracht hat.
Die Schlussformel: Ein Blick in die Zukunft
Die Schlussformel ist oft ein Indikator für die tatsächliche Wertschätzung des Arbeitnehmers:
* **Dank, Bedauern und Zukunftswünsche:** Dies ist die Idealformel und deutet auf ein positives Verhältnis hin.
* **Fehlt der Dank:** Kann bedeuten, dass der Arbeitgeber froh ist, dass der Mitarbeiter gegangen ist.
* **Fehlt das Bedauern:** Deutet auf eine neutrale oder sogar negative Haltung hin.
* **Zukunftswünsche ohne Dank und Bedauern:** Weniger positiv als die Idealformel.
Weitere wichtige Aspekte bei der Interpretation
* **Vermeiden Sie Überinterpretation:** Nicht jede Abweichung von der Idealformulierung muss negativ sein. Berücksichtigen Sie den Kontext und die Branche.
* **Achten Sie auf Widersprüche:** Widersprechen sich einzelne Aussagen im Zeugnis, ist Vorsicht geboten.
* **Vergleichen Sie mit anderen Zeugnissen:** Haben Sie bereits andere Zeugnisse, vergleichen Sie die Formulierungen und Bewertungen.
* **Suchen Sie professionelle Hilfe:** Im Zweifelsfall können Sie sich an einen Anwalt für Arbeitsrecht oder einen Karriereberater wenden, der sich auf die Interpretation von Arbeitszeugnissen spezialisiert hat.
Was tun, wenn das Zeugnis negativ ausfällt?
Sie haben das Recht, ein korrigiertes Arbeitszeugnis zu fordern, wenn Sie mit der Formulierung oder Bewertung nicht einverstanden sind. Legen Sie schriftlich Widerspruch ein und begründen Sie Ihre Einwände. Führen Sie konkrete Beispiele an, die Ihre Leistungen belegen. Im Zweifelsfall kann ein Anwalt Ihnen helfen, Ihre Ansprüche durchzusetzen.
Fazit: Aufmerksames Lesen lohnt sich
Das Arbeitszeugnis ist ein wichtiges Dokument für Ihre berufliche Zukunft. Indem Sie die versteckten Codes und Formulierungen entschlüsseln, können Sie das Zeugnis besser interpretieren und gegebenenfalls Korrekturen fordern. Seien Sie aufmerksam, kritisch und scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. So stellen Sie sicher, dass Ihr Arbeitszeugnis Ihre Leistungen und Fähigkeiten optimal widerspiegelt und Ihnen bei der Jobsuche hilft.