Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal einen Bissen von dem Teller Ihres Partners stibitzt, nachdem dieser satt war? Oder vielleicht sogar im Restaurant einen Blick auf den Nachbartisch geworfen und mit dem Gedanken gespielt, die verlassene Pizza zu probieren? Es ist ein Thema, über das man nicht gerne spricht, das aber viele von uns insgeheim beschäftigt: Das Essen von fremdem, nicht aufgegessenem Essen. Ein klarer Tabubruch, oder?
Ein stilles Tabu: Warum wir nicht darüber sprechen
Die Vorstellung, das Essen eines anderen Menschen zu essen, löst in vielen von uns ein Gefühl des Unbehagens, ja sogar Ekel aus. Aber warum ist das so? Die Gründe dafür sind vielfältig und tief in unserer Sozialisation verwurzelt.
- Hygiene und Gesundheit: Der offensichtlichste Grund ist die Angst vor Keimen und Krankheiten. Wir wissen nicht, wer das Essen zubereitet hat, wie hygienisch die Zubereitung war und welche gesundheitlichen Probleme die Person hat, die das Essen zurückgelassen hat. Die Gefahr einer Ansteckung mit Bakterien, Viren oder Parasiten ist real.
- Ekel und Abstoßung: Ekel ist eine starke Emotion, die uns vor potenziell schädlichen Substanzen schützen soll. Die Vorstellung, Speichel, Bakterien oder andere Körperflüssigkeiten einer anderen Person zu sich zu nehmen, löst bei vielen Menschen Ekelgefühle aus.
- Soziale Normen und Erziehung: Unsere Erziehung spielt eine entscheidende Rolle. Uns wird von klein auf beigebracht, dass man kein Essen wegwirft, aber auch, dass man nicht vom Teller anderer isst – es sei denn, man wird explizit dazu eingeladen. Das Essen von fremdem Essen gilt als unhöflich, unmanierlich und respektlos.
- Persönlicher Raum und Besitz: Essen ist etwas Persönliches, und der Teller, auf dem es liegt, wird oft als Teil des persönlichen Raums betrachtet. Das Essen von diesem Teller ohne Erlaubnis wird als Verletzung dieser Grenze wahrgenommen.
Ausnahmen von der Regel: Wenn der Tabubruch akzeptabel wird
Obwohl das Essen von fremdem Essen generell als Tabu gilt, gibt es Situationen, in denen es toleriert oder sogar akzeptiert wird. Diese Ausnahmen hängen oft von der Beziehung zu der Person ab, deren Essen wir essen, und vom Kontext der Situation.
- Enge Beziehungen: In engen Beziehungen, wie Partnerschaften, Freundschaften oder Familien, ist das Teilen von Essen üblicher und akzeptierter. Das „Ich probier mal” oder das „Kann ich den Rest haben?” ist in diesen Kontexten oft kein Problem. Die Vertrautheit und das Vertrauen in die andere Person überwiegen die hygienischen Bedenken.
- Gemeinsame Teller: Beim Tapas-Essen oder beim Buffet ist das Teilen von Speisen erwünscht. Hier wird explizit dazu aufgefordert, sich an den Speisen anderer zu bedienen. Der Fokus liegt auf dem gemeinsamen Genuss und dem sozialen Aspekt des Essens.
- Kinder: Bei Kindern wird das Essen von fremdem Essen oft toleriert oder sogar gefördert, um sie dazu zu bringen, neue Lebensmittel zu probieren. Eltern sind oft bereit, den Rest des Kindergerichts zu essen, um sicherzustellen, dass nichts verschwendet wird.
- Notfälle und Ressourcenknappheit: In Extremsituationen, wie Naturkatastrophen oder Hungersnöten, kann das Essen von gefundenem oder zurückgelassenem Essen überlebenswichtig sein. In solchen Fällen werden die hygienischen Bedenken hintenangestellt.
Der psychologische Aspekt: Warum wir es trotzdem tun
Trotz aller Tabus und Ekelgefühle gibt es Menschen, die immer wieder in Versuchung geraten, fremdes Essen zu essen. Was steckt dahinter?
- Neugierde und Versuchung: Manchmal ist es einfach die Neugierde, die uns dazu treibt, etwas zu probieren, das wir sonst nicht bekommen würden. Vielleicht sieht das Gericht auf dem Nachbartisch besonders lecker aus, oder wir wollen wissen, wie ein bestimmtes Gewürz schmeckt.
- Gier und Kontrollverlust: In manchen Fällen kann der Wunsch, fremdes Essen zu essen, ein Zeichen von Gier oder Kontrollverlust sein. Menschen mit Essstörungen oder einem gestörten Verhältnis zum Essen neigen möglicherweise eher dazu, diese Grenze zu überschreiten.
- Wirtschaftliche Gründe: In Zeiten finanzieller Not kann der Gedanke, Essen zu verschwenden, besonders schmerzhaft sein. Der Wunsch, Lebensmittel zu retten und Geld zu sparen, kann dazu führen, dass man über die hygienischen Bedenken hinwegsieht.
- Rebellion und Tabubruch: Für manche Menschen kann das Essen von fremdem Essen ein Akt der Rebellion sein. Sie brechen bewusst ein Tabu, um sich von gesellschaftlichen Normen zu distanzieren oder einfach nur, um einen Kick zu bekommen.
Die ethische Frage: Lebensmittelverschwendung vs. Hygiene
Die Debatte über das Essen von fremdem Essen berührt auch die ethische Frage der Lebensmittelverschwendung. Angesichts der Tatsache, dass weltweit ein Drittel aller produzierten Lebensmittel weggeworfen wird, ist es verständlich, dass manche Menschen das Gefühl haben, sie müssten etwas dagegen tun. Aber ist es ethisch vertretbar, aus diesem Grund die eigenen Gesundheitsbedenken zu ignorieren?
Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Die Entscheidung, ob man fremdes Essen essen sollte oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung, die von verschiedenen Faktoren abhängt, darunter die eigene Risikobereitschaft, die hygienischen Bedingungen und die ethischen Überzeugungen. Es ist wichtig, die Vor- und Nachteile sorgfältig abzuwägen und sich bewusst zu machen, dass es keine „richtige” oder „falsche” Antwort gibt.
Alternativen zum Tabubruch: Was Sie tun können, um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren
Wenn Sie sich Sorgen um Lebensmittelverschwendung machen, aber den Gedanken, fremdes Essen zu essen, ablehnen, gibt es viele andere Möglichkeiten, etwas zu bewirken:
- Planen Sie Ihre Mahlzeiten im Voraus: Durch eine sorgfältige Planung können Sie sicherstellen, dass Sie nur so viel Essen kaufen, wie Sie tatsächlich verbrauchen.
- Kochen Sie kleinere Portionen: Wenn Sie dazu neigen, zu viel zu kochen, versuchen Sie, kleinere Portionen zuzubereiten. Sie können immer noch nachkochen, wenn Sie hungrig sind.
- Nutzen Sie Reste kreativ: Reste sind eine großartige Möglichkeit, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Verwandeln Sie sie in neue Gerichte oder frieren Sie sie für später ein.
- Spenden Sie überschüssige Lebensmittel: Wenn Sie zu viel Essen haben, spenden Sie es an eine örtliche Tafel oder Obdachlosenunterkunft.
- Unterstützen Sie Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung: Es gibt viele Organisationen, die sich für die Reduzierung von Lebensmittelverschwendung einsetzen. Unterstützen Sie diese Initiativen durch Spenden oder ehrenamtliche Arbeit.
Letztendlich ist die Entscheidung, ob man fremdes, nicht aufgegessenes Essen isst oder nicht, eine sehr persönliche. Wägen Sie die Risiken und Vorteile ab, berücksichtigen Sie Ihre persönlichen Umstände und treffen Sie eine Entscheidung, mit der Sie sich wohlfühlen. Und vergessen Sie nicht: Es gibt viele andere Möglichkeiten, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, ohne ein Tabu zu brechen.