Rätsel gelöst: Warum Ihr PC Mainboard kein Strom bekommt, ihn aber trotzdem weitergibt

Stellen Sie sich vor: Ihr Computer zeigt keine Lebenszeichen, wenn Sie den Einschaltknopf drücken. Der Bildschirm bleibt schwarz, die Lüfter drehen sich nicht. Doch dann bemerken Sie es: Die USB-Ports versorgen Ihr Smartphone mit Strom, die LAN-Buchse blinkt fröhlich vor sich hin, oder eine kleine LED auf dem Mainboard leuchtet. Ihr PC bekommt keinen Strom – oder doch? Dieses scheinbar paradoxe Verhalten ist ein häufiges und frustrierendes Problem, das viele PC-Nutzer in den Wahnsinn treibt. Das Mainboard scheint tot zu sein, gibt aber trotzdem irgendwie Strom weiter. Was steckt dahinter? In diesem umfassenden Artikel entschlüsseln wir dieses Mysterium, erklären die technischen Hintergründe, die möglichen Ursachen und führen Sie Schritt für Schritt durch die Fehlerdiagnose, damit Sie Ihren treuen Begleiter wieder zum Leben erwecken können.

### Das Mysterium Entschlüsselt: Was bedeutet „Strom weitergeben” wirklich?

Bevor wir in die technischen Details eintauchen, müssen wir klären, was wir unter „keinen Strom bekommen” und „Strom weitergeben” verstehen. Wenn Ihr PC nicht startet, bedeutet das in der Regel, dass die Hauptkomponenten – CPU, RAM, Grafikkarte – nicht mit Strom versorgt werden, um den Bootvorgang einzuleiten. Die Lüfter drehen sich nicht, und es gibt keine Bildausgabe. Das System bleibt stumm.

Die „Strom weitergeben”-Komponente des Rätsels bezieht sich auf die Tatsache, dass trotz des scheinbaren Totalausfalls bestimmte Funktionen des Mainboards oder angeschlossener Geräte weiterhin mit Energie versorgt werden. Dazu gehören:
* Das Aufladen von Geräten über USB-Ports (auch wenn der PC ausgeschaltet ist).
* Blinkende LEDs an der LAN-Buchse (Netzwerkaktivität).
* Manchmal leuchtende Standby-LEDs auf dem Mainboard selbst.
* Die Möglichkeit, den PC über „Wake-on-LAN” zu starten, falls diese Funktion aktiviert ist.

Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt in der Unterscheidung zwischen der „Standby-Stromversorgung” und der „vollen Betriebsspannung” eines PCs.

### Die Hauptakteure der Stromversorgung im PC

Um das Problem zu verstehen, müssen wir die zentralen Komponenten der Stromversorgung im PC kennen:

1. **Das Netzteil (PSU – Power Supply Unit):** Das Herzstück jeder PC-Stromversorgung. Es wandelt den Wechselstrom aus der Steckdose in verschiedene Gleichspannungen um, die der PC benötigt (z.B. +12V, +5V, +3.3V). Eine besonders wichtige Rolle spielt hier die **+5VSB (5 Volt Standby)**-Leitung. Diese Leitung ist immer aktiv, sobald das Netzteil an eine Steckdose angeschlossen und am Schalter des Netzteils eingeschaltet ist, unabhängig davon, ob der PC läuft oder nicht.
2. **Das Mainboard (Hauptplatine):** Es ist die zentrale Kommunikations- und Verteilungsplattform für alle Komponenten. Es empfängt die verschiedenen Spannungen vom Netzteil und verteilt sie an die CPU (über VRMs – Voltage Regulator Modules), den Arbeitsspeicher, Erweiterungskarten und Peripheriegeräte. Das Mainboard beherbergt auch den Super I/O-Chip und den PCH (Platform Controller Hub), die für die Verwaltung von Stromsignalen, den Power-Button und Standby-Funktionen verantwortlich sind.
3. **Die Kabelverbindungen:** Insbesondere der 24-Pin ATX-Stecker (Hauptstromversorgung des Mainboards) und der **4-Pin oder 8-Pin CPU-Stromanschluss** sind entscheidend. Lose oder beschädigte Kabel können schwerwiegende Probleme verursachen.

### Hinter den Kulissen: Warum das Mainboard scheinbar „keinen Strom bekommt”

Wenn das Mainboard nicht startet, aber Standby-Funktionen noch aktiv sind, deutet dies darauf hin, dass die +5VSB-Leitung des Netzteils intakt ist und das Mainboard zumindest die Minimalspannung erhält, um grundlegende Überwachungsfunktionen aufrechtzuerhalten. Der eigentliche Startprozess wird jedoch verhindert. Hier sind die häufigsten Ursachen:

1. **Defektes Netzteil (PSU):**
* **Teilausfall:** Das Netzteil liefert möglicherweise die +5VSB-Spannung, aber eine oder mehrere der anderen Hauptspannungen (+12V, +5V, +3.3V) sind defekt, instabil oder brechen unter Last zusammen. Wenn das Mainboard das Signal zum Einschalten gibt, kann das Netzteil die angeforderten Spannungen nicht stabil liefern und schaltet sich sofort wieder ab oder reagiert gar nicht.
* **Schutzschaltungen:** Moderne Netzteile verfügen über umfangreiche Schutzschaltungen (z.B. OVP – Over Voltage Protection, OCP – Over Current Protection, SCP – Short Circuit Protection). Ein kleiner Kurzschluss an einer Komponente oder eine Überlastung kann das Netzteil veranlassen, sofort in den Schutzmodus zu gehen und sich abzuschalten, noch bevor die Lüfter anlaufen.

2. **Fehlerhafte oder lockere Kabelverbindungen:**
* **24-Pin ATX-Stecker:** Wenn dieser Stecker nicht richtig sitzt oder die Verriegelung nicht einrastet, kann die Signalübertragung vom Mainboard zum Netzteil (z.B. das „Power Good”-Signal) gestört sein, oder die Hauptstromversorgung ist unvollständig.
* **CPU-Stromanschluss (4-Pin/8-Pin EPS):** Dies ist ein sehr häufig übersehener Fehler. Wenn der zusätzliche CPU-Stromanschluss (meist oben links auf dem Mainboard) nicht oder nicht richtig angeschlossen ist, kann das Mainboard die CPU nicht mit Strom versorgen und verweigert den Start, selbst wenn der 24-Pin-Stecker korrekt verbunden ist. Das Mainboard hat dann nur die Standby-Spannung.

3. **Kurzschluss auf dem Mainboard oder einer angeschlossenen Komponente:**
* Dies ist eine der gefährlichsten Ursachen. Ein Kurzschluss kann durch defekte Kondensatoren, falsch eingebaute Komponenten (z.B. Abstandshalter unter dem Mainboard an falscher Stelle), einen defekten USB-Port, einen defekten Lüfteranschluss oder sogar eine defekte Grafikkarte verursacht werden. Wenn das Mainboard versucht, die volle Spannung anzulegen, erkennt es den Kurzschluss und schaltet sich sofort ab, oft ausgelöst durch die Schutzschaltungen des Netzteils. Die +5VSB-Leitung bleibt jedoch oft unberührt, da sie für den Startprozess nicht direkt in alle Bereiche geleitet wird.
* **Front-Panel-Anschlüsse:** Falsch angeschlossene oder defekte Kabel für Power-LED, Reset-Schalter oder Power-Schalter können ebenfalls einen Kurzschluss verursachen oder das Startsignal unterbrechen.

4. **Defekter Power-Schalter oder Front-Panel-Anschluss am Gehäuse:**
* Der Power-Schalter ist kein direkter Stromschalter, sondern sendet lediglich ein Signal an das Mainboard. Wenn der Schalter selbst defekt ist oder die Verbindung zu den Front-Panel-Pins auf dem Mainboard fehlerhaft ist, empfängt das Mainboard das Startsignal nicht, obwohl es mit Standby-Strom versorgt wird.

5. **Mainboard-spezifische Fehler:**
* **Defekter Super I/O-Chip oder PCH:** Diese Chips sind für die Steuerung der Stromversorgung, des Startvorgangs und vieler Peripheriegeräte zuständig. Ein Defekt hier kann den Start verhindern, während die Standby-Funktionen über andere Schaltkreise noch funktionieren.
* **Fehlerhafte BIOS/UEFI-Firmware:** Weniger häufig, aber ein korruptes BIOS kann ebenfalls den Start blockieren. Ein CMOS-Reset kann hier manchmal Abhilfe schaffen.
* **Defekte VRMs (Voltage Regulator Modules):** Die VRMs sind für die präzise Spannungsversorgung der CPU verantwortlich. Wenn diese defekt sind, kann die CPU nicht mit Strom versorgt werden, was den Startvorgang verhindert.

### Warum es trotzdem „Strom weitergibt” – Die Feinheiten der Standby-Power

Das Herzstück des Paradoxons ist die **+5VSB (5 Volt Standby)**-Schiene. Diese Spannung ist, wie erwähnt, immer aktiv, solange das Netzteil am Stromnetz hängt und eingeschaltet ist. Sie versorgt einen kleinen Teil des Mainboards, der für folgende Funktionen zuständig ist:
* **Power-Button-Logik:** Der Power-Schalter am Gehäuse ist mit dem Mainboard verbunden und wird von der +5VSB-Leitung überwacht. Wird der Knopf gedrückt, sendet das Mainboard ein Signal (PS_ON#) an das Netzteil, um die anderen Spannungsleitungen (+12V, +5V, +3.3V) zu aktivieren.
* **USB-Ladefunktion:** Viele Mainboards können über die **+5VSB**-Leitung weiterhin USB-Ports mit Strom versorgen, um Geräte auch im ausgeschalteten Zustand zu laden.
* **Wake-on-LAN (WoL):** Die Netzwerkkarte bleibt teilweise aktiv, um bei einem Netzwerkereignis den PC aufzuwecken. Daher blinken die LAN-LEDs.
* **Tastatur-/Maus-Wake-Up:** Manche Systeme können über Tastatur oder Maus aus dem Standby-Modus geweckt werden.
* **Real Time Clock (RTC) und CMOS:** Die CMOS-Batterie und die **RTC** werden ebenfalls über diese Leitung (oder die Batterie) versorgt, um Datum und Uhrzeit zu speichern.

Wenn also Ihr PC nicht startet, aber diese Funktionen aktiv sind, bedeutet das, dass die **+5VSB**-Leitung funktioniert und das Mainboard grundlegend mit Strom versorgt wird. Der Fehler liegt dann meistens in der **PS_ON#**-Signalgebung, der Unfähigkeit des Netzteils, die Hauptspannungen zu liefern, oder einem Kurzschluss, der das System vor dem Start schützt.

### Schritt für Schritt zur Diagnose: Dem Fehler auf der Spur

Die systematische Fehlersuche ist entscheidend. Gehen Sie methodisch vor, um die Ursache einzugrenzen.

1. **Sicherheit zuerst:**
* Ziehen Sie den Stecker des Netzteils aus der Steckdose.
* Betätigen Sie den Power-Button mehrmals, um Reststrom zu entladen.
* Tragen Sie eine antistatische Handschlaufe, um Schäden durch statische Entladung zu vermeiden.

2. **Visuelle Inspektion:**
* Überprüfen Sie alle Kabelverbindungen: Sitzen der 24-Pin ATX-Stecker und der CPU-Stromanschluss fest? Sind die Kabel unbeschädigt?
* Kontrollieren Sie das Mainboard auf sichtbare Schäden: Aufgeblähte Kondensatoren, Brandspuren, lose Bauteile oder Fremdkörper.
* Schauen Sie nach Anzeichen von Kurzschlüssen: Sitzen die Abstandshalter korrekt? Ist etwas unter dem Mainboard eingeklemmt?
* Prüfen Sie alle PCIe-Slots, RAM-Slots und USB-Ports auf Verunreinigungen oder verbogene Pins.

3. **Minimal-Setup-Test (Bench Test):**
* Bauen Sie das Mainboard aus dem Gehäuse aus und legen Sie es auf eine nicht-leitende Oberfläche (z.B. Karton der Mainboard-Verpackung).
* Schließen Sie nur die absolute Minimumausstattung an: Mainboard, CPU (mit Kühler), einen RAM-Riegel, und das Netzteil (24-Pin und CPU-Strom).
* Trennen Sie alle anderen Geräte: Grafikkarten, Festplatten, SSDs, optische Laufwerke, alle Front-Panel-Kabel (USB, Audio, Power, Reset).
* Versuchen Sie, den PC durch Überbrücken der Power-Pins auf dem Mainboard mit einem Schraubenzieher (kurz berühren) zu starten.
* **Ergebnis A:** Startet der PC jetzt, liegt das Problem wahrscheinlich beim Gehäuse (defekter Power-Schalter, Kurzschluss durch falsch sitzendes Mainboard) oder einer der entfernten Komponenten. Fügen Sie die Komponenten einzeln wieder hinzu, um den Übeltäter zu finden.
* **Ergebnis B:** Startet der PC immer noch nicht, liegt der Fehler wahrscheinlich beim Netzteil, Mainboard, CPU oder RAM.

4. **Netzteil-Test (Paperclip Test):**
* Trennen Sie das Netzteil komplett vom Mainboard.
* Stecken Sie ein Büroklammer oder ein Stück Draht in den grünen Pin (PS_ON#) und einen benachbarten schwarzen Pin (Masse) des 24-Pin ATX-Steckers.
* Schließen Sie das Netzteil an den Strom an und schalten Sie es ein.
* **Ergebnis A:** Der Netzteil-Lüfter dreht sich und bleibt an. Das Netzteil kann sich zumindest selbst einschalten. Dies schließt einen totalen Defekt aus, sagt aber nichts über die Stabilität der Spannungen unter Last aus.
* **Ergebnis B:** Der Netzteil-Lüfter dreht sich nicht oder nur kurz. Das Netzteil ist höchstwahrscheinlich defekt und muss ersetzt werden.

5. **Komponentenaustausch (Troubleshooting by Substitution):**
* **Netzteil:** Wenn möglich, testen Sie den PC mit einem garantiert funktionierenden Netzteil. Dies ist oft der schnellste Weg, um ein defektes Netzteil auszuschließen.
* **RAM:** Testen Sie die RAM-Riegel einzeln in verschiedenen Slots. Defekter RAM kann den Bootvorgang verhindern.
* **Mainboard:** Wenn Sie ein Ersatz-Mainboard zur Hand haben, können Sie versuchen, es auszutauschen. Dies ist oft die letzte Option, da Mainboards teuer sind.
* **CPU:** Eine defekte CPU ist selten, aber möglich. Wenn alle anderen Komponenten ausgeschlossen wurden, könnte es die CPU sein.

6. **CMOS Reset:**
* Schalten Sie den PC aus und ziehen Sie den Stromstecker.
* Entfernen Sie die kleine runde CMOS-Batterie für etwa 5-10 Minuten aus dem Mainboard.
* Alternativ können Sie den **CMOS-Reset-Jumper** auf dem Mainboard für einige Sekunden überbrücken (Anleitung im Mainboard-Handbuch).
* Dies setzt die BIOS/UEFI-Einstellungen auf die Werkseinstellungen zurück und kann bei bestimmten Bootproblemen helfen.

7. **Überprüfung auf Kurzschlüsse an den Front-Panel-Anschlüssen:**
* Vergewissern Sie sich, dass die kleinen Kabel für Power, Reset, HDD-LED usw. korrekt an den Front-Panel-Pins auf dem Mainboard angeschlossen sind. Ein falscher Anschluss oder ein Wackelkontakt kann den Start verhindern.

### Prävention ist der beste Schutz

* **Qualitätsnetzteil:** Investieren Sie in ein hochwertiges Netzteil von einem renommierten Hersteller. Günstige Netzteile sind oft die Ursache vieler Probleme.
* **Regelmäßige Reinigung:** Staub kann zu Überhitzung und sogar zu Kurzschlüssen führen. Reinigen Sie Ihren PC regelmäßig.
* **Korrekte Installation:** Achten Sie beim Zusammenbau des PCs auf korrekt sitzende Kabel und Abstandshalter.
* **Überspannungsschutz:** Verwenden Sie eine Steckdosenleiste mit **Überspannungsschutz**, um Ihr Netzteil vor Stromschwankungen zu schützen.

### Fazit

Das Rätsel eines scheinbar stromlosen Mainboards, das trotzdem Strom weitergibt, ist bei genauerer Betrachtung kein Paradoxon, sondern ein klares Indiz für ein Problem im Bereich der Stromversorgung oder bei einem Kurzschluss. Die **+5VSB**-Leitung des Netzteils sorgt dafür, dass grundlegende Funktionen des Mainboards immer aktiv sind, während die Hauptspannungen für den Betrieb aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung stehen oder blockiert werden.

Mit einer systematischen Fehlerdiagnose, beginnend bei der visuellen Inspektion über den Minimal-Setup-Test bis hin zum Komponentenaustausch, können Sie die Ursache des Problems eingrenzen und beheben. Haben Sie Geduld und gehen Sie Schritt für Schritt vor – in den meisten Fällen lässt sich das Problem mit den richtigen Techniken identifizieren und lösen, sodass Ihr PC bald wieder volle Leistung bringt.