Die Welt des Gamings ist oft von glänzenden High-End-Grafikkarten, riesigen Monitoren und sündhaft teuren Setups geprägt. Doch was passiert, wenn man das Budget auf ein Minimum schraubt und auf einen Fertig-PC setzt, dessen grafische Fähigkeiten bestenfalls als „rudimentär“ zu beschreiben sind? Kann ein solches System, ausgestattet mit dem, was wir liebevoll als „Cardboard-Grafikkarte“ bezeichnen, überhaupt noch ein Spielerlebnis liefern? Wir sind dieser provokanten Frage auf den Grund gegangen und haben einen typischen Office-PC auf Herz und Nieren getestet, um herauszufinden, wie viel Gaming-Leistung wirklich in einem Rechner mit integrierter Grafik steckt.
**Was meinen wir mit „Cardboard-Grafikkarte”?**
Bevor wir ins Detail gehen, lassen Sie uns klären, was wir mit diesem augenzwinkernden Begriff meinen. Eine „Cardboard-Grafikkarte” ist natürlich keine physische Karte aus Pappe. Vielmehr steht sie symbolisch für eine integrierte Grafikeinheit (IGP), die direkt in der Hauptprozessor (CPU) verbaut ist. Typische Beispiele sind Intels UHD Graphics oder Iris Xe Graphics sowie AMDs Radeon Vega oder RDNA2-basierte iGPUs in ihren APUs. Diese Lösungen sind primär dafür gedacht, ein Bild auf den Monitor zu zaubern, Office-Anwendungen zu beschleunigen und YouTube-Videos flüssig abzuspielen – nicht aber, um die neuesten AAA-Titel in glorreicher 4K-Auflösung zu rendern. Sie teilen sich den Arbeitsspeicher mit der CPU, besitzen keinen dedizierten Videospeicher (VRAM) und ihre Rechenleistung ist im Vergleich zu einer echten dedizierten Grafikkarte extrem begrenzt. Kurzum: Sie sind das absolute Minimum, das man an Grafikleistung erwarten kann.
**Der Kandidat: Unser „Cardboard-Gaming-PC”**
Für unseren Test haben wir einen typischen, preisgünstigen Fertig-PC ausgewählt, wie er oft im Handel für Office- oder Multimedia-Anwendungen angeboten wird.
* **Prozessor:** AMD Ryzen 5 5600G (mit integrierter Radeon Vega 7 Grafik) oder Intel Core i5-11600K (mit Intel UHD Graphics 750) – wir nehmen für diesen Test beispielhaft den Ryzen 5 5600G, da AMDs integrierte Grafiklösungen traditionell etwas leistungsstärker sind.
* **Arbeitsspeicher:** 16 GB DDR4 RAM (wichtig: Dual-Channel, da integrierte Grafikkarten stark vom Speicherdurchsatz profitieren)
* **Speicher:** 500 GB NVMe SSD (für schnelle Ladezeiten)
* **Betriebssystem:** Windows 11
* **Preisbereich:** ca. 400-600 Euro (ohne Monitor und Peripherie)
Dieser PC ist ein Paradebeispiel für ein System, das von vielen Nutzern gekauft wird, die nicht primär spielen wollen, aber vielleicht neugierig sind, ob ihr neuer Rechner auch für das ein oder andere Spielchen taugt.
**Die Hypothese: Was erwarten wir von der „Pappe”?**
Unsere Erwartungen waren von Anfang an gedämpft. Wir wussten, dass dieser PC kein Gaming-Monster ist. Für anspruchsvolle, moderne AAA-Titel rechneten wir mit einer Diashow oder gar einem Absturz. Unsere Hoffnung lag eher im Bereich von:
* **Älteren Klassikern:** Spiele, die vor 5-10 Jahren erschienen sind.
* **Indie-Games:** Titel mit oft minimalistischer Grafik, aber großartigem Gameplay.
* **E-Sports-Spielen:** Weniger grafikintensive Titel, die auf hohe Bildraten ausgelegt sind.
* **Retro-Gaming:** Emulatoren für Konsolen vergangener Tage.
Die Herausforderung war es, die Spiele bei niedrigster Auflösung (meist 720p oder 1080p) und den absolut geringsten Grafikeinstellungen überhaupt spielbar zu bekommen.
**Die Testumgebung und Methodik**
Um faire und vergleichbare Ergebnisse zu erzielen, haben wir folgende Parameter festgelegt:
1. **Auflösung:** Primär 1280×720 (720p), sekundär 1920×1080 (1080p), falls 720p zu gut lief.
2. **Grafikeinstellungen:** Alle Regler auf „Minimum”, „Niedrig” oder „Aus”. Texturen, Schatten, Anti-Aliasing – alles reduziert.
3. **FPS-Monitoring:** Einsatz von Software wie MSI Afterburner zur Überwachung der Bildrate (Frames Per Second, FPS) in Echtzeit.
4. **Treiber:** Neueste verfügbare Grafikkartentreiber des Herstellers.
5. **Hintergrundprozesse:** Alle unnötigen Hintergrundanwendungen wurden geschlossen, um maximale Ressourcen freizugeben.
Wir haben eine breite Palette von Spielen getestet, um die Grenzen der „Cardboard-Grafikkarte” auszuloten.
**Die Tests und Ergebnisse: Ein Blick in die Spielwelt**
**1. Moderne AAA-Titel (Die Tränen fließen)**
* **Cyberpunk 2077 (2020):** Selbst bei 720p und allen Einstellungen auf „Niedrig” war dies ein unspielbares Fiasko. Wir sahen durchschnittlich 10-15 FPS, begleitet von starken Rucklern und Artefakten. Der VRAM-Mangel und die geringe Rechenleistung der IGP waren hier sofort spürbar. Ergebnis: **Absolut unspielbar.**
* **The Witcher 3: Wild Hunt (2015):** Ein Meisterwerk, das immer noch gut aussieht. Bei 720p und „Low”-Einstellungen erreichten wir in offenen Gebieten 20-25 FPS, in Innenräumen oder bei weniger Action auch mal 30 FPS. Es war technisch *möglich*, sich fortzubewegen, aber weit entfernt von einem flüssigen Spielerlebnis. Ergebnis: **Mühsam spielbar, aber nicht empfehlenswert.**
* **Grand Theft Auto V (2015):** Einer der Überraschungskandidaten. Bei 720p mit sehr niedrigen Einstellungen und ausgeschalteter Sichtweite schafften wir im Schnitt 30-40 FPS in belebten Stadtgebieten. Es gab sichtbare Pop-ins und die Grafik war matschig, aber es war gerade so **spielbar**. Ein Beweis für die gute Skalierbarkeit des Spiels.
**2. Ältere / Weniger anspruchsvolle AAA-Titel (Die Goldene Mitte)**
* **The Elder Scrolls V: Skyrim (2011, Originalversion):** Bei 1080p und mittleren bis niedrigen Einstellungen erreichten wir konstant 45-60 FPS. Das war ein echter Genuss! Die „Cardboard-Grafikkarte” zeigte hier, dass sie ältere, gut optimierte Titel problemlos stemmen kann. Ergebnis: **Sehr gut spielbar.**
* **Portal 2 (2011):** Bei 1080p und hohen Einstellungen (ja, hohen!) lieferte das System butterweiche 60+ FPS. Die Source-Engine ist einfach phänomenal optimiert. Ergebnis: **Perfekt spielbar.**
* **Left 4 Dead 2 (2009):** Ähnlich wie Portal 2. 1080p und hohe Einstellungen, stabile 60+ FPS. Zombie-Gemetzel ohne Ruckler. Ergebnis: **Perfekt spielbar.**
**3. Indie-Games (Der Sweet Spot für „Cardboard-Gaming”)**
* **Stardew Valley (2016):** Ein 2D-Pixel-Art-Spiel, das keine Grafikkarte der Welt ins Schwitzen bringt. 1080p, 60+ FPS, makellos. Ergebnis: **Mühelos spielbar.**
* **Hollow Knight (2017):** Ein wunderschönes 2D-Metroidvania. 1080p, 60+ FPS, keine Probleme. Ergebnis: **Mühelos spielbar.**
* **Minecraft (Vanille, 2011):** Ohne aufwendige Shader-Packs oder Mods lief Minecraft bei 1080p mit einer Renderdistanz von ca. 8-12 Chunks bei stabilen 40-60 FPS. Mit OptiFine und optimierten Einstellungen sind auch höhere FPS möglich. Ergebnis: **Gut spielbar.**
* **Factorio (2016):** Dieses Spiel kann aufwendig werden, sobald die Fabrik riesig wird. Im frühen bis mittleren Spiel lieferte es bei 1080p stabile 60 FPS. Bei sehr großen Fabriken könnte die CPU limitieren, aber die Grafik war selten das Problem. Ergebnis: **Sehr gut spielbar.**
**4. E-Sports-Titel (Wettkampf unter Kompromissen)**
* **League of Legends (2009):** Bei 1080p und mittleren bis niedrigen Einstellungen waren konstante 60+ FPS problemlos möglich. Für kompetitives Gaming war das völlig ausreichend. Ergebnis: **Sehr gut spielbar.**
* **Valorant (2020):** Ein relativ neuerer Titel, der aber für gute Skalierbarkeit bekannt ist. Bei 1080p und niedrigen Einstellungen konnten wir im Schnitt 45-60 FPS erreichen. Für Gelegenheitsspieler in Ordnung, für ambitionierte Spieler vielleicht grenzwertig. Ergebnis: **Spielbar mit Kompromissen.**
* **Counter-Strike: Global Offensive (2012):** Bei 1080p und niedrigen Einstellungen erreichte der PC stabile 60+ FPS, oft sogar deutlich mehr. Ein Klassiker, der immer noch gut läuft. Ergebnis: **Sehr gut spielbar.**
**5. Retro-Gaming & Emulation (Der wahre Triumph)**
* **SNES / N64 / PS1 Emulatoren:** Diese Emulatoren laufen auf nahezu jedem modernen Toaster. Unser „Cardboard-PC” hatte keinerlei Probleme, Spiele wie Super Mario World, Zelda: Ocarina of Time oder Tony Hawk’s Pro Skater in voller Geschwindigkeit, oft mit Upscaling und Filtern, darzustellen. Ergebnis: **Perfekt für Retro-Fans.**
**6. Cloud Gaming (Der Joker im Ärmel)**
Hier kommt der Kniff: Dienste wie NVIDIA GeForce NOW, Xbox Cloud Gaming oder Google Stadia (RIP) verlagern die gesamte Rechenleistung in die Cloud. Der „Cardboard-PC” fungiert dann nur noch als Empfangsgerät für den gestreamten Videoinhalt. Alles, was man braucht, ist eine stabile und schnelle Internetverbindung. Mit 50 MBit/s oder mehr konnten wir Spiele wie Cyberpunk 2077 oder Forza Horizon 5 in ordentlicher Qualität und flüssig spielen, ohne dass die integrierte Grafik überhaupt zum Einsatz kam. Ergebnis: **Perfekte Lösung, wenn die Internetverbindung stimmt.** Die „Cardboard-Grafikkarte” ist hier irrelevant.
**Fazit der Gaming-Leistung: Licht und Schatten der „Pappe”**
Unsere Tests zeigen ein klares Bild: Die „Cardboard-Grafikkarte” in einem Budget-Fertig-PC ist weit davon entfernt, ein Gaming-Kraftpaket zu sein. Moderne, grafisch anspruchsvolle AAA-Titel sind in den meisten Fällen eine Zumutung oder schlichtweg unspielbar. Hier stößt die integrierte Grafik schnell an ihre Grenzen bei VRAM, Rechenleistung und Speicherbandbreite.
Aber es gibt auch viel Licht: Für ältere Triple-A-Titel, die gut optimiert sind, für eine Vielzahl von Indie-Games, für die meisten E-Sports-Titel und insbesondere für Retro-Gaming ist die Leistung **überraschend gut und absolut ausreichend**. Ein flüssiges Spielerlebnis bei 1080p oder 720p mit Kompromissen bei den Details ist oft machbar.
**Wann ist ein „Cardboard-PC” die richtige Wahl?**
Ein PC mit integrierter Grafik ist ideal für:
* **Budgetbewusste Spieler:** Die absolute Priorität ist der Preis, und man ist bereit, bei der Grafik Abstriche zu machen.
* **Gelegenheitsspieler:** Man spielt nur ab und zu, und dann eher weniger anspruchsvolle Titel.
* **Office- und Multimedia-Nutzer:** Der PC wird hauptsächlich für Arbeit, Studium oder Unterhaltung genutzt, aber man möchte die Option haben, auch mal ein Spiel zu starten.
* **Indie-Game-Enthusiasten:** Wer die große Welt der kreativen Indie-Titel liebt, findet hier eine erschwingliche Plattform.
* **Retro-Fans:** Perfekt für die Wiederbelebung alter Klassiker.
* **Cloud-Gaming-Nutzer:** Wenn die Internetverbindung der Flaschenhals ist, bietet sich Cloud Gaming als Alternative an, und die lokale Grafikkarte spielt kaum eine Rolle mehr.
**Optimierungstipps für Minimal-Gamer**
Wer das Maximum aus seiner „Cardboard-Grafikkarte” herausholen möchte, sollte folgende Tipps beherzigen:
1. **Dual-Channel RAM:** Integrierte Grafikeinheiten profitieren enorm von zwei RAM-Modulen, die im Dual-Channel-Modus laufen. Wenn nur ein Modul verbaut ist, nachrüsten!
2. **Schneller RAM:** Höher getakteter RAM (z.B. DDR4-3200 oder -3600) verbessert die Leistung spürbar, da die IGP den System-RAM als VRAM nutzt.
3. **Grafiktreiber aktualisieren:** Die Hersteller optimieren ihre Treiber ständig. Aktuelle Treiber können erhebliche Leistungssteigerungen mit sich bringen.
4. **In-Game-Einstellungen reduzieren:** Auflösung, Schatten, Texturen, Sichtweite, Anti-Aliasing – alles auf „Niedrig” stellen oder deaktivieren. Das bringt die größten FPS-Gewinne.
5. **Hintergrundprozesse schließen:** Jede unnötige Anwendung im Hintergrund frisst Ressourcen.
6. **SSD ist Pflicht:** Eine Solid State Drive sorgt für schnelle Ladezeiten und ein reaktionsschnelles System, auch wenn sie die FPS nicht direkt beeinflusst.
7. **APU-Overclocking (Vorsicht!):** Erfahrene Nutzer können versuchen, die integrierte Grafikeinheit im BIOS leicht zu übertakten. Dies sollte jedoch mit Vorsicht und gutem Wissen geschehen, da es die Stabilität beeinträchtigen kann.
**Der Blick in die Zukunft: Wird die „Pappe” dicker?**
Die Entwicklung im Bereich der integrierten Grafikkarten ist vielversprechend. AMDs neuere APUs mit RDNA2- oder gar RDNA3-Architektur zeigen deutlich, dass die Performance von IGPs stetig zunimmt. Auch Intel holt mit ihren Iris Xe Grafiklösungen auf. Es ist durchaus denkbar, dass in ein paar Jahren selbst ein „Office-PC” der 600-Euro-Klasse in der Lage sein wird, viele aktuelle AAA-Titel bei 1080p und niedrigen bis mittleren Einstellungen flüssig darzustellen. Cloud Gaming wird zudem immer wichtiger und bietet eine leistungsstarke Alternative, die die lokale Hardware entlastet.
**Abschließendes Urteil**
Der „große Test” hat gezeigt: Die „Cardboard-Grafikkarte” ist kein Mythos der Unspielbarkeit. Sie definiert lediglich eine andere Art des Gamings. Für den passionierten Hardcore-Gamer, der die neuesten Blockbuster in höchster Pracht erleben möchte, ist sie nichts. Aber für den Gelegenheitsspieler, den Retro-Fan oder den Indie-Liebhaber, der ein Budget-PC sucht, bietet sie eine erstaunlich fähige Plattform. Es ist ein Beweis dafür, dass Gaming nicht immer teuer sein muss und dass der Spaß am Spielen oft mehr von der Geschichte, der Mechanik und der Community abhängt als von den rein technischen Spezifikationen der Grafikkarte. Die „Cardboard-Grafikkarte” ist vielleicht keine Schönheit, aber sie ist zweifellos ein hartnäckiger und oft unterschätzter Kämpfer im Ring der Gaming-Leistung.