Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade eine brandneue, blitzschnelle NVMe-SSD gekauft, zum Beispiel die hochgelobte **Samsung 990 Pro** oder die beeindruckende **Kingston KC3000**, beide mit einer beworbenen Kapazität von 1 TB. Voller Vorfreude installieren Sie das Laufwerk, starten Ihr Betriebssystem und… Moment mal! Anstatt der versprochenen 1 TB zeigt Ihr System vielleicht nur etwa 931 GB oder, noch verwirrender, die Samsung 990 Pro zeigt *noch ein paar Gigabyte weniger* an als die Kingston KC3000. Ist das ein Fehler? Wurden Sie betrogen? Die kurze Antwort lautet: Nein, absolut nicht. Die längere Antwort ist eine faszinierende Reise in die Welt der digitalen Speicherung, die von mathematischen Konventionen, technischen Notwendigkeiten und cleveren Optimierungsstrategien geprägt ist.
### Die Wurzel des „Fehlers”: Dezimal vs. Binär – Ein alter Konflikt
Der wohl häufigste Grund für die vermeintlich „fehlenden” Gigabyte bei *jeder* Speicherlösung – sei es eine SSD, HDD, USB-Stick oder SD-Karte – ist ein grundlegendes Missverständnis zwischen zwei unterschiedlichen Zählweisen: dem **dezimalen System**, das von Herstellern verwendet wird, und dem **binären System**, das von den meisten Betriebssystemen (Windows, macOS, Linux) zur Anzeige der Kapazität genutzt wird.
* **Herstellerangaben (Dezimal):** Für Speicherhersteller ist 1 Kilobyte (KB) = 1.000 Byte, 1 Megabyte (MB) = 1.000 KB und 1 Gigabyte (GB) = 1.000 MB. Demnach ist 1 Terabyte (TB) exakt 1.000.000.000.000 Byte. Diese metrische Einheit ist einfach, leicht zu kommunizieren und erzeugt natürlich größere, eindrucksvollere Zahlen für Marketingzwecke.
* **Betriebssystemanzeige (Binär):** Computer und Betriebssysteme arbeiten intern mit dem binären System, der Basis 2. Hier ist 1 Kibibyte (KiB) = 1.024 Byte, 1 Mebibyte (MiB) = 1.024 KiB und 1 Gibibyte (GiB) = 1.024 MiB. Entsprechend sind 1 Tebibyte (TiB) = 1.024 GiB.
Wenn Ihr Betriebssystem nun die Herstellerangabe von 1.000.000.000.000 Byte in seine binäre Zählweise umrechnet, ergibt sich Folgendes:
1.000.000.000.000 Byte / (1024 * 1024 * 1024) = ca. 931,32 GiB.
Diese Differenz ist also kein Datenverlust, sondern lediglich eine unterschiedliche Maßeinheit, ähnlich wie der Unterschied zwischen Meilen und Kilometern. Die Diskrepanz von etwa 7 % ist bei allen Speichergeräten üblich und völlig normal. Doch warum zeigt die Samsung 990 Pro manchmal *noch weniger* an als andere SSDs, selbst nach dieser Umrechnung? Hier kommt ein weiterer, technischerer Aspekt ins Spiel: das **Over-Provisioning**.
### Mehr als nur Mathematik: Die Rolle des Over-Provisioning (OP)
Abgesehen von der Dezimal- vs. Binär-Umrechnung gibt es einen weiteren, entscheidenden Faktor, der die tatsächlich nutzbare Kapazität einer SSD beeinflusst: das **Over-Provisioning (OP)**. Dabei handelt es sich um einen Teil der physischen Speicherkapazität einer SSD, der vom Controller des Laufwerks für interne Verwaltungsaufgaben reserviert und für den Benutzer unsichtbar gemacht wird. Dieser Bereich ist nicht zugänglich und erscheint daher als „fehlender” Speicher.
Warum ist dieses Over-Provisioning so wichtig und warum opfern Hersteller dafür kostbaren Speicherplatz? Es dient mehreren kritischen Zwecken, die die Leistung, Zuverlässigkeit und Lebensdauer einer SSD maßgeblich beeinflussen:
1. **Wear Leveling (Verschleißausgleich):** NAND-Flash-Speicherzellen haben eine begrenzte Anzahl von Schreib- und Löschzyklen, bevor sie verschleißen. Der Controller der SSD verteilt Schreibvorgänge möglichst gleichmäßig auf alle Speicherblöcke, um eine vorzeitige Abnutzung einzelner Zellen zu vermeiden und die Lebensdauer der SSD zu verlängern. Hierfür benötigt er freie Blöcke, um Daten verschieben zu können.
2. **Garbage Collection (Müllsammlung):** Wenn Daten auf einer SSD gelöscht werden, werden die entsprechenden Zellen nicht sofort physikalisch gelöscht (wie bei einer HDD), sondern lediglich als ungültig markiert. Um diesen Speicherplatz wieder nutzbar zu machen, muss ein Prozess namens „Garbage Collection” ausgeführt werden. Dabei werden gültige Daten von teils ungültigen Blöcken in neue, leere Blöcke verschoben, und die nun vollständig ungültigen Blöcke werden gelöscht (erased). Dieser Prozess ist ressourcenintensiv und erfordert freie Blöcke als temporäre Zwischenspeicher. Ohne ausreichend Over-Provisioning kann die Garbage Collection die Leistung der SSD drastisch beeinträchtigen.
3. **Bad Block Management:** Im Laufe der Zeit können einzelne Speicherzellen fehlerhaft werden. Das Over-Provisioning stellt Ersatzblöcke bereit, auf die der Controller zugreifen kann, um defekte Blöcke zu ersetzen und so Datenverlust zu verhindern.
4. **Performance-Optimierung:** Over-Provisioning stellt dem Controller einen Puffer an leeren, vorab gelöschten Blöcken zur Verfügung. Dies ermöglicht schnellere Schreibvorgänge, da der Controller nicht erst auf die Verfügbarkeit von leeren Blöcken warten oder Blöcke löschen muss, bevor er neue Daten schreiben kann. Dies ist besonders wichtig für die Aufrechterhaltung der dauerhaften Leistung unter hoher Last.
Kurz gesagt: Over-Provisioning ist ein entscheidender Mechanismus, der dazu beiträgt, dass Ihre SSD über ihre gesamte Lebensdauer hinweg schnell, zuverlässig und ausdauernd bleibt.
### Der feine Unterschied: Samsung 990 Pro vs. Kingston KC3000
Nun kommen wir zum Kern der Frage: Warum zeigt die **Samsung 990 Pro** tendenziell *noch weniger* Kapazität an als beispielsweise eine **Kingston KC3000**, obwohl beide als 1 TB Modelle beworben werden? Die Antwort liegt in den **unterschiedlichen Over-Provisioning-Strategien** der Hersteller und Modelle.
* **Samsung 990 Pro: Leistung und Ausdauer an erster Stelle**
Die Samsung 990 Pro ist bekannt für ihre Spitzenleistung, insbesondere bei anspruchsvollen Arbeitslasten. Samsung verfolgt bei seinen High-End-SSDs, insbesondere der Pro-Serie, oft eine aggressivere Over-Provisioning-Strategie. Das bedeutet, dass ein größerer Prozentsatz der gesamten physischen NAND-Kapazität für interne Verwaltungsaufgaben reserviert wird. Während ein übliches Over-Provisioning-Verhältnis oft bei 7 % liegt (was zu einer Kapazität von z.B. 480 GB bei einem 512 GB-Laufwerk führt, oder 960 GB bei einem 1 TB-Laufwerk), können Hersteller wie Samsung dieses Verhältnis auf 10 % oder sogar mehr erhöhen.
Diese zusätzliche Reserve ermöglicht der 990 Pro, eine noch konstantere und höhere Leistung zu erzielen, selbst bei anhaltender Belastung. Die **TBW (Total Bytes Written)**-Werte, die die erwartete Lebensdauer der SSD in geschriebenen Terabytes angeben, sind bei der 990 Pro oft sehr hoch, was direkt mit dem erhöhten Over-Provisioning in Verbindung steht. Mehr Over-Provisioning bedeutet eine längere Lebensdauer und bessere Leistung über die gesamte Lebensdauer. Für professionelle Anwender, Gamer oder Content Creator, die höchste Anforderungen an ihre Speichermedien stellen, ist dies ein klarer Vorteil.
* **Kingston KC3000: Optimierung für eine breitere Masse**
Die Kingston KC3000 ist ebenfalls eine hervorragende, leistungsstarke SSD, die eine breite Zielgruppe anspricht. Kingston und andere Hersteller mögen eine leicht weniger aggressive Over-Provisioning-Strategie wählen. Das bedeutet, sie reservieren einen etwas kleineren Prozentsatz der physischen NAND-Kapazität. Dadurch steht dem Endnutzer direkt nach der Formatierung **marginal mehr nutzbarer Speicherplatz** zur Verfügung. Dies ist oft eine bewusste Designentscheidung, um ein gutes Gleichgewicht zwischen Kapazität, Leistung und Kosten zu finden, das für die Mehrheit der Heimanwender und Power-User attraktiv ist.
Es ist wichtig zu verstehen, dass weder der eine noch der andere Ansatz „richtig” oder „falsch” ist. Es sind unterschiedliche Optimierungsstrategien, die auf verschiedene Nutzungsszenarien abzielen. Wenn die Kingston KC3000 bei einer beworbenen Kapazität von 1 TB beispielsweise 953 GiB anzeigt (also 1024 GB * 0,931 * 0,95, wenn 5% OP angenommen werden), während die Samsung 990 Pro nur 931 GiB anzeigt (1024 GB * 0,931 * 0,90, wenn 10% OP angenommen werden), dann ist diese Differenz auf die bewusst gewählten OP-Level zurückzuführen.
### Firmware und Controller: Die unsichtbaren Architekten
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zu den Unterschieden zwischen den SSD-Modellen beiträgt, sind der **SSD-Controller** und seine **Firmware**. Der Controller ist das „Gehirn” der SSD, ein komplexer Chip, der alle Operationen des NAND-Flash-Speichers verwaltet. Dies umfasst Wear Leveling, Garbage Collection, Fehlerkorrektur (ECC) und die Zuordnung logischer Adressen zu den physischen NAND-Blöcken.
Die **Firmware** ist die Software, die auf diesem Controller läuft und dessen Verhalten steuert. Samsung entwickelt seine eigenen Controller (wie den auf der 990 Pro verwendeten Pascal-Controller) und die zugehörige Firmware im eigenen Haus. Dies ermöglicht eine tiefgreifende Optimierung und Abstimmung auf die spezifischen NAND-Chips und die gewünschte Leistungscharakteristik. Andere Hersteller wie Kingston verwenden oft Controller von Drittanbietern (z.B. Phison oder Silicon Motion), entwickeln aber ihre eigene Firmware, um diese an ihre spezifischen Anforderungen anzupassen.
Die Firmware entscheidet letztendlich über den genauen Umfang des Over-Provisioning, die Aggressivität der Garbage Collection, die Effizienz des Wear Leveling und viele andere Parameter, die sich auf die Leistung und die angezeigte Kapazität auswirken. Ein Controller, der für höchste Ausdauer und konsistente Leistung unter extremen Bedingungen konzipiert ist, wird wahrscheinlich eine Firmware nutzen, die ein höheres Over-Provisioning verlangt, um diese Ziele zu erreichen.
### Was bedeutet das für Sie als Nutzer?
Wenn Sie also feststellen, dass Ihre **Samsung 990 Pro** oder **Kingston KC3000** weniger Speicher anzeigt, als Sie erwartet haben, gibt es keinen Grund zur Sorge. Es ist kein Defekt und Sie wurden nicht betrogen. Stattdessen sind es die normalen Begleiterscheinungen der digitalen Speichertechnologie:
1. **Die Dezimal- vs. Binär-Umrechnung:** Der Großteil der „fehlenden” Gigabyte ist auf die unterschiedliche Zählweise von Herstellern und Betriebssystemen zurückzuführen.
2. **Over-Provisioning:** Der verbleibende, geringere Unterschied zwischen vergleichbaren Laufwerken verschiedener Hersteller ist das Ergebnis unterschiedlicher Over-Provisioning-Strategien, die auf spezifische Leistungs-, Ausdauer- und Zuverlässigkeitsziele ausgelegt sind.
**Ihre Entscheidung sollte auf Ihren Prioritäten basieren:**
* **Maximale Rohkapazität:** Wenn jeder Gigabyte zählt und Sie das absolute Maximum an verfügbarem Speicher wünschen, sollten Sie Laufwerke mit potenziell geringerem Over-Provisioning in Betracht ziehen. Beachten Sie jedoch, dass dies unter Umständen auf Kosten von geringerer Spitzenleistung bei Dauerlast und/oder einer kürzeren Lebensdauer gehen könnte.
* **Spitzenleistung, Konsistenz und Langlebigkeit:** Wenn Ihnen dauerhaft hohe Übertragungsraten, überragende Zuverlässigkeit und eine lange Lebensdauer (wie durch hohe TBW-Werte indiziert) wichtiger sind, dann sind Laufwerke mit aggressiverem Over-Provisioning wie die Samsung 990 Pro eine exzellente Wahl. Diese Investition in die interne Verwaltung zahlt sich in der Praxis aus.
Prüfen Sie immer die detaillierten Spezifikationen der SSD, insbesondere die **TBW (Total Bytes Written)**-Werte und die garantierten **IOPS/Durchsatz**-Werte, da diese Indikatoren oft eng mit dem Grad des Over-Provisioning und der allgemeinen Optimierung des Laufwerks verbunden sind.
### Fazit
Das Rätsel um die „fehlenden” Gigabyte bei modernen SSDs wie der Samsung 990 Pro und der Kingston KC3000 ist bei genauer Betrachtung keines mehr. Es ist das Ergebnis einer Kombination aus standardisierten Maßeinheiten und hochentwickelten technischen Optimierungsstrategien. Während die Dezimal-Binär-Umrechnung eine universelle Erklärung für die allgemeine Diskrepanz darstellt, sind die subtilen Unterschiede in der angezeigten Kapazität zwischen verschiedenen Modellen ein Beweis für die komplexen und durchdachten Ingenieurleistungen, die in jeder SSD stecken. Hersteller wählen spezifische **Over-Provisioning**-Level und entwickeln angepasste **Firmware**, um ihren Laufwerken bestimmte Eigenschaften in Bezug auf **Leistung**, **Ausdauer** und **Zuverlässigkeit** zu verleihen.
Sowohl die Samsung 990 Pro als auch die Kingston KC3000 sind hervorragende SSDs in ihrem jeweiligen Segment. Der vermeintlich „fehlende” Speicher ist in Wirklichkeit ein versteckter Dienstleister, der sicherstellt, dass Ihr Laufwerk über Jahre hinweg optimal funktioniert. Mit diesem Wissen können Sie nun beruhigt Ihre SSD genießen und sich auf das konzentrieren, wofür sie wirklich da ist: beeindruckend schnelle Datenspeicherung.