Seit meiner Kindheit üben Züge eine ganz besondere Faszination auf mich aus. Das majestätische Rollen, das Schnaufen der Bremsluft, die schier endlose Aneinanderreihung von Waggons – all das weckte stets eine tiefe Neugierde. Doch die größte Geheimniskrämerei umgab für mich immer das „Cockpit“, der Führerstand. Was verbirgt sich hinter der vordersten Scheibe? Welche Knöpfe und Hebel bedient ein Lokführer, um diese tonnenschweren Stahlkolosse zu steuern? Als Nichtbahnmitarbeiter schien dieser Blick hinter die Kulissen ein unerreichter Traum. Bis er wahr wurde – und ich die einzigartige Gelegenheit bekam, im Führerstand der Baureihe 611 und der Baureihe 628 mitzufahren.
Der lange gehegte Traum wird Wirklichkeit
Die Gelegenheit ergab sich durch eine glückliche Verkettung von Umständen und die Freundlichkeit eines engagierten Bahnmitarbeiters. Nach der Klärung aller Sicherheitsfragen und der Einhaltung strenger Vorschriften stand ich plötzlich vor der Tür, die für die meisten Reisenden verschlossen bleibt. Das Herz klopfte. Eine Mischung aus kindlicher Aufregung und ehrfürchtigem Respekt vor der Technik und der Verantwortung des Lokführers erfüllte mich. Es war nicht nur ein Blick ins Innere, sondern ein Eintauchen in eine völlig andere Welt.
Der erste Kontakt: Die Baureihe 611 – Der moderne Neigetechnik-Zug
Mein erstes Erlebnis führte mich in den Führerstand der Baureihe 611, auch bekannt als „Regioswinger“. Diese Züge sind bekannt für ihre Neigetechnik, die es ihnen ermöglicht, Kurven mit höherer Geschwindigkeit zu durchfahren und dabei den Fahrkomfort für die Passagiere zu erhalten. Schon von außen wirkt die 611 mit ihrer aerodynamischen Form und den großen Frontscheiben sehr modern und dynamisch.
Der Einstieg und die ersten Eindrücke
Als ich das Führerpult betrat, war ich sofort von der Anordnung und der Fülle der Instrumente beeindruckt. Es ist ein hochmoderner Arbeitsplatz. Die Sitze sind ergonomisch geformt, die Sicht ist phänomenal. Große Bildschirme dominieren das Blickfeld des Lokführers, auf denen Informationen zu Geschwindigkeit, Bremsdruck, Signalisierungssystemen (PZB/LZB) und Fahrzeugstatus übersichtlich dargestellt werden. Die Haptik der Schalter und Hebel ist präzise, fast schon computergesteuert. Es riecht nach einer Mischung aus Elektronik, Metall und einer Prise frischer Luft, die durch die Lüftung strömt.
Die Fahrt mit der Neigetechnik
Der Lokführer, ein erfahrener und geduldiger Mann, erklärte mir die wichtigsten Funktionen, während er routiniert die Abfahrt vorbereitete. Das Anfahren der 611 ist sanft, fast schwebend. Die Beschleunigung ist spürbar, aber nicht ruckartig. Doch das eigentliche Highlight war die Neigetechnik. In den ersten Kurven spürte ich das leise Summen der Hydraulik und sah, wie sich der Zug leicht zur Kurveninnenseite neigte. Für mich auf dem Beifahrersitz war das Gefühl ungewohnt, fast ein wenig desorientierend, aber gleichzeitig unglaublich faszinierend. Die Landschaft schien sich leicht zu bewegen, und ich bekam einen völlig neuen Blickwinkel auf die Gleise und die Umgebung. Der Lokführer erklärte, dass sich die Augen und das Gleichgewichtsorgan nach einiger Zeit daran gewöhnen und man die Neigung kaum noch wahrnimmt. Es ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, das die Fahrt nicht nur schneller, sondern auch geschmeidiger macht.
Die Funkgespräche, die konstante Beobachtung der Signale und die präzise Bedienung des Fahr-Bremshebels – all das zeugte von der hohen Konzentration, die dieser Beruf erfordert. Die vorbeifliegenden Landschaften, die tunnelartigen Wälder und die kurzen Blicke in belebte Bahnhöfe aus dieser Perspektive waren atemberaubend. Man ist nicht nur Passagier, sondern Teil des Geschehens, des pulsierenden Lebens auf der Schiene.
Der Kontrast: Die Baureihe 628 – Der robuste Klassiker
Nach diesem futuristischen Erlebnis folgte der direkte Kontrast: die Fahrt im Führerstand der Baureihe 628. Diese Züge sind die wahren Arbeitspferde des Regionalverkehrs, bekannt für ihre Zuverlässigkeit und Robustheit. Sie haben bereits unzählige Kilometer auf dem Buckel und prägen vielerorts das Bild ländlicher Bahnstrecken.
Zeitreise in die Technik der 80er Jahre
Der Einstieg in die 628 war wie eine kleine Zeitreise. Hier dominiert nicht die digitale Bildschirmästhetik, sondern eine robustere, analogere Instrumentierung. Die Anzeigen sind teils noch mit Zeigern versehen, die Schalter und Hebel wirken massiver und mechanischer. Das Design ist funktional, weniger auf Hochglanz poliert als bei der 611, aber keineswegs weniger beeindruckend. Es riecht hier eher nach Diesel, Öl und dem unverwechselbaren Geruch alter Technik – ein Duft, der Eisenbahnfans vertraut ist.
Das Fahren mit dem „Arbeitspferd“
Der Motor der 628 ist beim Anfahren deutlich präsenter, ein tiefes Grollen erfüllt den Raum, wenn die Dieselaggregate ihre Arbeit aufnehmen. Die Beschleunigung ist kräftig, aber direkter, weniger gefiltert als bei der 611. Hier spürt man die Mechanik, die Kraftübertragung auf die Räder unmittelbarer. Es ist ein Gefühl von roherer, ungefilterter Energie.
Der Lokführer erklärte mir die Unterschiede im Bremsverhalten und in der Handhabung der verschiedenen Systeme. Während bei der 611 viele Prozesse digital unterstützt werden, erfordert die 628 ein noch feinfühligeres Gespür für die Mechanik. Die Kommunikation über Funk, die Beobachtung der Strecke und das genaue Einhalten der Fahrpläne sind natürlich auch hier von größter Bedeutung. Man spürt die Erfahrung des Lokführers, wie er mit diesem verlässlichen „Arbeitspferd“ souverän umgeht, jede Eigenheit des Fahrzeugs kennt und beherrscht.
Die Baureihe 628 bietet eine unvergleichliche Perspektive auf die vorbeiziehende Landschaft. Ohne Neigetechnik erlebt man die Kurven auf eine traditionellere Weise, spürt die Fliehkraft, die den Zug in die Schiene drückt. Es ist ein ehrliches, erdiges Fahrerlebnis, das den Charme der klassischen Eisenbahn verkörpert.
Vergleich und Fazit: Zwei Welten, eine Leidenschaft
Die Möglichkeit, den Führerstand zweier so unterschiedlicher Baureihen zu erleben, war eine Lektion in Sachen technischer Entwicklung und der Vielseitigkeit des Berufs des Lokführers. Die Baureihe 611 steht für Fortschritt, Effizienz und hohen Fahrkomfort durch innovative Neigetechnik. Ihr Führerstand ist ein Hightech-Cockpit, das den Anforderungen moderner Schnellverbindungen gerecht wird. Die Baureihe 628 hingegen repräsentiert die robuste Zuverlässigkeit, die über Jahrzehnte den Regionalverkehr geprägt hat. Ihr Führerstand ist ein Beweis für bewährte Technik und die Handwerkskunst des Führens.
Was beide Erlebnisse gemeinsam hatten, war die Erkenntnis über die immense Verantwortung, die auf den Schultern jedes Lokführers lastet. Der Blick auf die Gleise, die ständige Wachsamkeit für Signale, Weichen und mögliche Hindernisse, die Kommunikation und das präzise Einhalten von Fahrplänen – all das erfordert ein Höchstmaß an Konzentration, Fachwissen und Gelassenheit. Man ist nicht nur für den eigenen Zug, sondern für Hunderte von Fahrgästen und die Sicherheit des gesamten Bahnverkehrs verantwortlich.
Mein Blick auf das Zugfahren hat sich durch dieses unvergessliche Bahnerlebnis grundlegend verändert. Jedes Mal, wenn ich nun als Fahrgast in einem Zug sitze, sehe ich die vordere Scheibe mit anderen Augen. Ich stelle mir die komplexen Vorgänge im Führerstand vor, die ständige Aufmerksamkeit des Lokführers und die faszinierende Technik, die uns sicher und pünktlich ans Ziel bringt. Es war ein Privileg, diesen Einblick zu bekommen, ein Traum, der nicht nur in Erfüllung ging, sondern meine Begeisterung für die Eisenbahn noch weiter vertieft hat. Ein riesiger Dank an alle, die dies ermöglicht haben – es war wahrhaftig eine Reise, die ich nie vergessen werde.