Stau. Ein Wort, das bei vielen Autofahrern unweigerlich ein Gefühl von Frustration, Langeweile und manchmal auch Hilflosigkeit auslöst. Minuten werden zu Stunden, die Blechlawine bewegt sich nur im Schneckentempo oder steht ganz still. Der Motor heult leise, die Klimaanlage kämpft gegen die Hitze, und die Nerven liegen blank. In solchen Momenten sieht man immer wieder dasselbe Phänomen: Irgendjemand verliert die Geduld, öffnet die Tür und steigt aus. Manchmal nur, um sich die Beine zu vertreten, manchmal, um den Hund Gassi zu führen, und manchmal leider auch, um eine Auseinandersetzung zu beginnen. Als Beobachter sitzt man im eigenen Auto, schüttelt den Kopf und fragt sich: Ist das erlaubt? Und sollte ich deswegen die Polizei rufen? Die Antwort ist komplexer, als man denkt, und das „Blaulicht im Rückspiegel“ ist oft nur die Spitze eines Eisbergs.
**Die tickende Zeitbombe: Warum das Aussteigen im Stau so gefährlich ist**
Bevor wir uns den rechtlichen und polizeilichen Konsequenzen widmen, ist es entscheidend zu verstehen, warum das Verlassen des Fahrzeugs im fließenden oder stockenden Verkehr eine so große Gefahr darstellt. Ein Stau, insbesondere auf der Autobahn, ist kein Parkplatz. Auch wenn der Verkehr steht, kann sich die Situation blitzschnell ändern. Ein Auffahrunfall am Stauende, ein plötzlich beschleunigendes Fahrzeug oder ein Rettungswagen, der sich einen Weg bahnen muss – all das sind Szenarien, in denen sich Fußgänger auf der Fahrbahn in höchster Lebensgefahr befinden.
Die Sichtbarkeit ist schlecht, insbesondere bei Dunkelheit oder schlechtem Wetter. Andere Fahrer, die ebenfalls frustriert sind oder abgelenkt werden, rechnen nicht mit Personen außerhalb ihrer Fahrzeuge. Ein kurzer Blick aufs Handy, eine Unaufmerksamkeit – und schon kann es zu einem tragischen Unfall kommen. Hinzu kommt das Risiko, dass Personen, die aussteigen, andere Verkehrsteilnehmer durch ihr Verhalten irritieren, ablenken oder sogar nötigen. Die Verkehrssicherheit hat oberste Priorität, und jedes unnötige Risiko muss vermieden werden.
**Rechtliche Grundlagen: Was sagt die Straßenverkehrsordnung (StVO)?**
Die deutsche Straßenverkehrsordnung (StVO) ist in diesem Punkt relativ eindeutig. Der maßgebliche Paragraph ist § 18 Abs. 9 StVO, der besagt: „Kraftfahrzeuge, bei denen die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit mehr als 60 km/h beträgt, sowie ihre Anhänger dürfen auf Autobahnen sowie auf Kraftfahrstraßen nur an dafür vorgesehenen Stellen halten.“ Dieser Paragraph bezieht sich primär auf das Halten, aber das Aussteigen ist untrennbar damit verbunden.
Noch relevanter für das Aussteigen ist jedoch der allgemeine Grundsatz der StVO, dass jeder Verkehrsteilnehmer sich so verhalten muss, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird (§ 1 StVO). Das Aussteigen aus einem Fahrzeug im Stau auf der Autobahn oder einer mehrspurigen Straße verstößt in der Regel gegen diese allgemeine Sorgfaltspflicht und kann als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.
Es gibt natürlich Ausnahmen: Wenn das Fahrzeug eine Panne hat, man Erste Hilfe leisten muss oder die Unfallstelle absichern will. In solchen Fällen ist das Verlassen des Fahrzeugs nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten – aber immer unter Beachtung größtmöglicher Vorsicht (Warnweste, Warndreieck). Das bloße „Sich-die-Beine-Vertreten“ oder „Frust-Ablassen“ zählt definitiv nicht dazu. Wer ohne triftigen Grund aussteigt, riskiert nicht nur seine eigene Gesundheit, sondern auch ein Bußgeld. Die Höhe kann variieren, liegt aber in der Regel bei 30 Euro, kann aber bei Gefährdung anderer höher ausfallen.
**Wann ist ein Anruf bei der Polizei gerechtfertigt? Die Gratwanderung zwischen Bagatelle und Notfall**
Dies ist die Kernfrage, die sich viele stellen. Soll man bei jedem, der im Stau die Tür öffnet, sofort die 110 wählen? Die klare Antwort lautet: Es kommt darauf an.
1. **Eindeutige Gefahr oder Straftat:** Wenn Sie beobachten, wie Personen aussteigen und sich prügeln, andere Verkehrsteilnehmer aktiv gefährden, Sachbeschädigung begehen, unter Drogeneinfluss stehen oder versuchen, in andere Fahrzeuge einzudringen, dann zögern Sie nicht. Dies sind Situationen, die eine sofortige polizeiliche Intervention erfordern. Hier handelt es sich nicht nur um eine Ordnungswidrigkeit, sondern potenziell um eine Straftat. Das ist ein klarer Fall für den Notruf 110.
2. **Potenzielle Gefahr oder wiederholtes Fehlverhalten:** Wenn jemand nur kurz aussteigt, sich streckt und schnell wieder einsteigt, mag das zwar nicht ideal sein, rechtfertigt aber in den meisten Fällen keinen Notruf. Anders sieht es aus, wenn Personen über längere Zeit auf der Fahrbahn herumlaufen, sich in den Fahrraum des Standstreifens begeben, Kinder unbeaufsichtigt umherirren oder offenkundig eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen, auch wenn noch kein konkreter Schaden entstanden ist. Hier ist ein Anruf bei der Polizei sinnvoll, um potenzielle Risiken zu minimisieren. Die Polizei kann die Situation überprüfen und präventiv einschreiten.
3. **Bagatelle oder Unsicherheit:** Wenn Sie unsicher sind oder es sich um ein marginales Fehlverhalten handelt, das keine unmittelbare Gefahr darstellt, ist es oft besser, von einem Anruf abzusehen. Die Ressourcen der Polizei sind begrenzt, und jeder Notruf bindet Kapazitäten. Eine Person, die kurz am Straßenrand steht und telefoniert, ohne den Verkehr zu behindern, ist in der Regel kein Fall für die 110. Denken Sie daran: Bei echten Notfällen zählt jede Sekunde.
**Wie man die Polizei richtig informiert: Präzision rettet Leben**
Wenn Sie sich entscheiden, die Polizei zu rufen, weil Sie eine gefährliche Situation beobachtet haben, ist es entscheidend, die richtigen Informationen präzise weiterzugeben. Ein effektiver Anruf kann den Unterschied zwischen schnellem Eingreifen und verzögerter Hilfe ausmachen.
1. **Wählen Sie die 110:** Dies ist der zentrale Notruf der Polizei in Deutschland.
2. **Bleiben Sie ruhig:** Auch wenn die Situation aufregend ist, versuchen Sie, gefasst zu bleiben und klar zu sprechen.
3. **Standort:** Geben Sie den genauen Standort an. Auf Autobahnen sind das die Autobahnnummer, die Fahrtrichtung (z.B. A3 Richtung Köln) und die Kilometerangabe oder die Beschilderung der nächsten Ausfahrt. Bei Stau auf Landstraßen oder innerorts nennen Sie Straßennamen, Hausnummern oder markante Punkte in der Nähe. Jede Information hilft der Leitstelle, Sie und den Vorfall schnell zu lokalisieren.
4. **Was ist passiert?** Beschreiben Sie kurz und prägnant, was Sie beobachten: „Eine Person ist aus ihrem Auto ausgestiegen und läuft auf der Fahrbahn herum / es kommt zu einer Schlägerei / ein Kind ist unbeaufsichtigt.“
5. **Fahrzeugbeschreibung:** Wenn möglich, geben Sie Marke, Modell, Farbe und vor allem das **Kennzeichen** des Fahrzeugs an, aus dem die Person ausgestiegen ist. Das Kennzeichen ist die wichtigste Information für die Polizei.
6. **Personenbeschreibung:** Wenn es sich um eine Person handelt, die eine Gefahr darstellt, beschreiben Sie sie: Geschlecht, ungefähres Alter, Kleidung.
7. **Zusätzliche Informationen:** Gab es Verletzte? Sind Waffen im Spiel? Wie viele Personen sind beteiligt? Jede weitere relevante Beobachtung kann wertvoll sein.
8. **Warten Sie auf Rückfragen:** Die Beamten in der Leitstelle sind geschult, die notwendigen Informationen zu erfragen. Bleiben Sie am Telefon, bis alle Fragen geklärt sind.
**Nach dem Anruf: Was passiert bei der Polizei?**
Sobald Ihr Anruf bei der Leitstelle eingegangen ist, beginnt ein standardisiertes Prozedere:
1. **Priorisierung:** Die Leitstelle bewertet die Dringlichkeit des Vorfalls. Ein beobachteter Kampf oder eine massive Gefährdung hat eine höhere Priorität als jemand, der sich nur kurz die Beine vertritt. Entsprechend werden die Einsatzkräfte disponiert.
2. **Alarmierung:** Einem Funkstreifenwagen in der Nähe des Vorfallortes wird der Einsatz zugewiesen. Die Beamten erhalten alle von Ihnen übermittelten Informationen.
3. **Anfahrt:** Der Funkstreifenwagen fährt zum Einsatzort. Je nach Dringlichkeit und Verkehrslage kann dies mit Blaulicht und Martinshorn erfolgen – oder unauffällig, wenn keine akute Gefahr für Leib und Leben besteht. Dies ist der Moment, in dem das „Blaulicht im Rückspiegel” Realität werden kann.
4. **Lageerkundung:** Bei Ankunft verschaffen sich die Beamten einen Überblick über die Situation. Sie beobachten, sprechen mit Beteiligten und Zeugen (möglicherweise auch mit Ihnen, wenn Sie noch vor Ort sind und sich zu erkennen gegeben haben).
5. **Intervention:** Die Beamten sprechen die Person an, die aus dem Fahrzeug ausgestiegen ist. Sie klären den Sachverhalt, weisen auf die Gefahren und die rechtliche Lage hin.
**Mögliche Konsequenzen für den Aussteiger**
Was genau auf die Person zukommt, die aus ihrem Auto ausgestiegen ist, hängt stark von der individuellen Situation ab:
* **Ermahnung und Platzverweis:** In vielen Fällen, besonders wenn keine akute Gefahr bestand und die Person kooperativ ist, belassen es die Beamten bei einer mündlichen Ermahnung und der Aufforderung, wieder ins Fahrzeug einzusteigen. Dies ist oft der Fall, wenn jemand nur kurz auf der Standspur gestanden hat.
* **Bußgeld:** Wenn die Person mutwillig und ohne ersichtlichen Grund auf der Fahrbahn herumläuft oder andere gefährdet, wird in der Regel ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Das bereits erwähnte Bußgeld von 30 Euro (oder mehr bei Gefährdung) wird fällig.
* **Weitergehende Maßnahmen:** Wurden Straftaten (z.B. Körperverletzung, Nötigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) begangen, folgen entsprechende strafrechtliche Ermittlungen und gegebenenfalls Anzeigen. Bei auffälligem Verhalten, das auf Drogen- oder Alkoholeinfluss hindeutet, kann eine Blutentnahme angeordnet oder ein Fahrverbot verhängt werden.
* **Keine Konsequenzen:** Gab es einen triftigen Grund (Panne, medizinischer Notfall, Erste Hilfe) für das Verlassen des Fahrzeugs, bleiben die Maßnahmen aus. Die Polizei kann hier sogar Unterstützung leisten (z.B. Absicherung der Unfallstelle).
**Die Rolle des Anrufers: Anonymität und weitere Pflichten**
Viele Menschen scheuen sich, die Polizei zu rufen, aus Angst, als „Petze“ dazustehen oder selbst in Schwierigkeiten zu geraten. Grundsätzlich können Sie einen Notruf anonym absetzen. Es ist jedoch oft hilfreich, wenn Sie Ihren Namen und eine Rückrufnummer hinterlassen. Dies ermöglicht es der Leitstelle, bei Bedarf weitere Details zu erfragen. Ihre Identität wird in der Regel nicht an die beteiligten Personen weitergegeben, es sei denn, Sie werden als Zeuge benötigt und stimmen dem zu.
Ihre Pflicht als Anrufer endet in der Regel mit dem Notruf. Sie müssen nicht vor Ort bleiben oder die Situation selbst entschärfen. Tatsächlich wird dringend davon abgeraten, sich selbst in Gefahr zu bringen. Ihre Aufgabe ist es, die Polizei zu informieren, nicht, selbst zum Helden zu werden.
**Fazit: Verantwortung statt Frust – Sicherheit geht vor**
Das Aussteigen aus dem Auto im Stau ist ein klassisches Beispiel für eine Situation, in der individuelle Frustration auf kollektive Verkehrssicherheit trifft. Auch wenn es verständlich ist, dass die Nerven im Stau blank liegen, darf die persönliche Bequemlichkeit niemals die Sicherheit aller anderen Verkehrsteilnehmer gefährden.
Wenn Sie Zeuge eines solchen Verhaltens werden, ist es Ihre bürgerliche Pflicht, zu reagieren, wenn eine echte Gefahr besteht. Ein Anruf bei der Polizei ist dann kein „Petzen“, sondern ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit auf unseren Straßen. Die Polizei ist dazu da, diese Gefahren abzuwenden und die Regeln der StVO durchzusetzen. Und während nicht jeder, der kurz aussteigt, mit dem Blaulicht im Rückspiegel rechnen muss, zeigt die Möglichkeit der polizeilichen Intervention doch deutlich: Der Straßenverkehr ist kein rechtsfreier Raum, und die Sicherheit geht immer vor. Bewahren Sie im Stau Ruhe, bleiben Sie im Auto und tragen Sie so zu einem sicheren Miteinander bei.