Der Polizei Platz gemacht und dabei über einen Rotlichtblitzer gefahren? Das müssen Sie jetzt wissen

Es ist eine Situation, die wohl jeder Autofahrer fürchtet: Das Martinshorn schrillt, das Blaulicht eines Polizeifahrzeugs oder eines anderen Einsatzfahrzeugs drängt von hinten, und Sie müssen sofort Platz schaffen. In der Hektik übersehen Sie jedoch, dass Sie sich gerade einer roten Ampel nähern – und in Ihrem Bemühen, schnellstmöglich die Fahrbahn freizumachen, überfahren Sie den Stoppbereich, vielleicht sogar die Haltelinie, und werden prompt von einem Rotlichtblitzer erfasst. Ein kurzes Aufleuchten, und die Gewissheit macht sich breit: Sie haben soeben einen Rotlichtverstoß begangen. Doch was passiert, wenn dieser Verstoß im Eifer des Gefechts und im Dienste der Sicherheit anderer geschieht? Müssen Sie die Strafe anstandslos akzeptieren oder gibt es rechtliche Möglichkeiten, sich zu wehren? Dieser Artikel beleuchtet umfassend Ihre Rechte und die notwendigen Schritte, wenn Sie sich in dieser Zwickmühle wiederfinden.

Die stressige Situation: Platzmachen für Einsatzfahrzeuge

Zunächst einmal ist es wichtig, die Ausgangslage zu verstehen. Gemäß § 38 Abs. 1 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) gilt: „Blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn darf nur verwendet werden, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwenden, flüchtige Personen zu verfolgen oder bedeutende Sachwerte zu erhalten. Es ordnet an: ‘Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen’.” Das bedeutet, Sie sind gesetzlich verpflichtet, diesen Einsatzfahrzeugen unverzüglich Vorfahrt zu gewähren und ihnen den Weg zu ebnen. Diesem Gebot der Stunde kommen die meisten Autofahrer selbstverständlich nach. Doch genau hier kann der Konflikt entstehen: Die Einhaltung der Vorschrift des Platzmachens kollidiert mit der Einhaltung anderer Verkehrsregeln, wie dem Anhalten bei Rotlicht.

Der Rotlichtverstoß: Was steht auf dem Spiel?

Ein regulärer Rotlichtverstoß gehört zu den schwerwiegendsten Verkehrsübertretungen. Die Konsequenzen hängen maßgeblich davon ab, wie lange die Ampel bereits rot war, als Sie die Haltelinie überfuhren. Man unterscheidet zwischen einem einfachen und einem qualifizierten Rotlichtverstoß:

• Einfacher Rotlichtverstoß: Die Ampel war weniger als eine Sekunde rot. Dies zieht in der Regel ein Bußgeld von 90 Euro und einen Punkt in Flensburg nach sich.
• Qualifizierter Rotlichtverstoß: Die Ampel war länger als eine Sekunde rot. Hier wird es teurer und folgenreicher: Ein Bußgeld von 200 Euro, zwei Punkte in Flensburg und ein einmonatiges Fahrverbot sind die Mindeststrafen. Bei Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer oder einem Unfall steigen Bußgelder und Punkte, das Fahrverbot kann länger ausfallen.

Die Aussicht auf ein solches Strafmaß, nur weil man einem Einsatzfahrzeug Platz machen wollte, ist verständlicherweise frustrierend und besorgniserregend. Doch das Gesetz kennt auch Ausnahmen und Rechtfertigungsgründe.

Die juristische Rettungsleine: Rechtfertigender Notstand und Pflichtenkollision

Glücklicherweise sind Sie in einer solchen Situation nicht schutzlos. Das deutsche Recht kennt zwei zentrale Konzepte, die in Ihrem Fall relevant sein könnten: den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) und die Pflichtenkollision.

Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB)

Obwohl § 34 StGB primär im Strafrecht angesiedelt ist, finden seine Grundprinzipien auch im Ordnungswidrigkeitenrecht Anwendung. Er besagt, dass eine Tat nicht rechtswidrig ist, „wenn sie, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, begangen wird und bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.”

Übertragen auf Ihren Fall bedeutet das:

1. Gegenwärtige Gefahr: Die Gefahr besteht darin, dass das Einsatzfahrzeug (z.B. Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst) bei seiner dringenden Fahrt behindert wird. Jede Verzögerung kann Menschenleben kosten oder gravierende Schäden verursachen.
2. Nicht anders abwendbar: Sie hatten keine andere Möglichkeit, schnell genug Platz zu schaffen, als über die rote Ampel zu fahren. Ein Anhalten hätte das Einsatzfahrzeug blockiert oder dessen Bremsweg gefährlich verkürzt.
3. Interessenabwägung: Hier liegt der Kern. Das geschützte Interesse ist die schnelle und ungehinderte Fahrt des Einsatzfahrzeugs, um eine noch größere Gefahr abzuwenden. Das beeinträchtigte Interesse ist die Sicherheit des Straßenverkehrs, die durch Ihren Rotlichtverstoß theoretisch gefährdet wurde. Im Allgemeinen wird die ungehinderte Durchfahrt eines Einsatzfahrzeugs mit Blaulicht und Martinshorn als das wesentlich übergeordnete Interesse angesehen, insbesondere wenn der Verstoß selbst keine konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer mit sich brachte.

Die Pflichtenkollision

Eng verwandt mit dem rechtfertigenden Notstand ist der Begriff der Pflichtenkollision. Hier stehen Sie vor zwei gleichrangigen oder zumindest sehr wichtigen Pflichten, die sich gegenseitig ausschließen: die Pflicht, bei Rot anzuhalten, und die Pflicht, einem Einsatzfahrzeug sofort freie Bahn zu schaffen. Wenn Sie eine dieser Pflichten erfüllen, verletzen Sie zwangsläufig die andere. In einem solchen Fall wird von Ihnen erwartet, dass Sie die Pflicht erfüllen, deren Verletzung die größeren negativen Konsequenzen hätte. Im Regelfall ist dies das Platzmachen für das Einsatzfahrzeug, da die Behinderung weitaus gravierendere Folgen haben kann als ein im Rahmen der Möglichkeiten „sicher” ausgeführter Rotlichtverstoß.

Was tun, nachdem der Blitzer ausgelöst hat? Sofortmaßnahmen

Der Schock sitzt tief, der Blitzer hat ausgelöst. Was jetzt? Es gibt ein paar Dinge, die Sie sofort tun können, um Ihre spätere Verteidigung zu stärken:

1. Nicht anhalten oder zurückfahren: Das Wichtigste ist, die Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Bremsen Sie nicht abrupt und versuchen Sie nicht, zurückzusetzen, um dem Blitzer zu entgehen. Dies könnte zu gefährlichen Situationen führen. Fahren Sie sicher weiter.
2. Details notieren: Merken Sie sich so präzise wie möglich die Situation.
   • Datum und Uhrzeit: Das sollte auf dem späteren Bußgeldbescheid stehen, aber die genaue Minute kann entscheidend sein.
   • Ort des Geschehens: Straße, Kreuzung, Fahrtrichtung.
   • Typ des Einsatzfahrzeugs: War es die Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst?
   • Anzahl der Einsatzfahrzeuge: War es nur eines oder folgten weitere?
   • Blaulicht und Martinshorn: War beides in Betrieb? Dies ist entscheidend für die Pflicht zum Platzmachen.
   • Ihre genaue Position: Wo genau standen Sie, als das Einsatzfahrzeug kam? Wie haben Sie Platz gemacht?
   • Verkehrssituation: War die Kreuzung frei? Gab es andere Autos?
   • Mögliche Zeugen: Haben Sie Beifahrer oder andere Personen gesehen, die die Situation beobachtet haben könnten? Notieren Sie, wenn möglich, Kontaktdaten.
3. Dashcam-Aufnahmen prüfen: Falls Sie eine Dashcam besitzen, überprüfen Sie die Aufnahmen. Sie können ein unschätzbares Beweismittel sein.

Der Bußgeldbescheid ist da – und jetzt?

In den meisten Fällen wird Ihnen einige Wochen nach dem Vorfall ein Bußgeldbescheid zugestellt. Diesen sollten Sie keinesfalls ignorieren oder vorschnell bezahlen. Eine Zahlung gilt als Schuldeingeständnis und macht einen späteren Einspruch schwierig.

Schritt 1: Den Bescheid genau prüfen

Lesen Sie den Bußgeldbescheid sorgfältig durch. Stimmen Datum, Uhrzeit und Ort mit Ihrer Erinnerung überein? Welcher Verstoß wird Ihnen konkret vorgeworfen (einfacher oder qualifizierter Rotlichtverstoß)?

Schritt 2: Einen Anwalt für Verkehrsrecht kontaktieren

Dies ist der wichtigste Schritt. Ein auf Verkehrsrecht spezialisierter Anwalt kann Ihre Situation professionell einschätzen. Er wird für Sie:

• Akteneinsicht beantragen: Nur so erfahren Sie alle Details der Beweislage, inklusive des Blitzerfotos und gegebenenfalls des Messprotokolls. Manchmal sind auf dem Blitzerfoto sogar schemenhaft die Blaulichter des Einsatzfahrzeugs im Hintergrund zu erkennen.
• Die Sachlage juristisch bewerten: Er kann beurteilen, ob ein rechtfertigender Notstand oder eine Pflichtenkollision in Ihrem Fall erfolgreich geltend gemacht werden kann.
• Einspruch formulieren und einlegen: Der Einspruch muss schriftlich und innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids bei der zuständigen Behörde eingehen. Ihr Anwalt formuliert diesen rechtssicher und begründet ihn ausführlich mit den entsprechenden juristischen Argumenten und den von Ihnen gesammelten Informationen.
• Sie vertreten: Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, vertritt Sie der Anwalt und legt Ihre Sicht der Dinge dar.

Schritt 3: Den Einspruch begründen

Wenn Sie sich ohne Anwalt entscheiden sollten, Einspruch einzulegen (was in dieser komplexen Lage nicht zu empfehlen ist), müssen Sie diesen detailliert begründen. Beschreiben Sie genau, warum Sie die rote Ampel überfahren haben. Betonen Sie, dass Sie gemäß § 38 Abs. 1 StVO verpflichtet waren, dem Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn freie Bahn zu schaffen, und dass dies unter den gegebenen Umständen nicht anders möglich war, ohne das Einsatzfahrzeug zu behindern. Erwähnen Sie den rechtfertigenden Notstand oder die Pflichtenkollision als Argumentation.

Mögliche Ausgänge des Verfahrens

Die Erfolgsaussichten sind in solchen Fällen oft gut, wenn die Situation eindeutig war und gut dokumentiert werden kann:

1. Einstellung des Verfahrens: Dies ist das gewünschte Ergebnis. Die Behörde oder später das Gericht erkennt den rechtfertigenden Notstand an und stellt das Verfahren ein. Sie müssen weder Bußgeld zahlen noch Punkte befürchten.
2. Verwarnung: In manchen Fällen kann das Verfahren auch gegen eine geringe Verwarnung ohne Punkte eingestellt werden, insbesondere wenn die Situation nicht ganz eindeutig war oder Sie minimal fahrlässig gehandelt haben.
3. Freispruch vor Gericht: Falls die Behörde den Einspruch nicht akzeptiert und die Sache vor Gericht geht, kann der Richter nach Anhörung der Beweise und Zeugen ebenfalls einen Freispruch erteilen.
4. Verurteilung: Im schlimmsten Fall, wenn Ihre Argumente nicht überzeugen oder die Beweislage gegen Sie spricht (z.B. wenn das Einsatzfahrzeug nicht zweifelsfrei identifiziert werden kann oder Sie eine alternative Möglichkeit gehabt hätten, Platz zu machen), kann es zu einer Verurteilung kommen. Doch gerade hier ist die anwaltliche Vertretung von unschätzbarem Wert, um dies zu verhindern.

Prävention: Wie man sich in solchen Situationen am besten verhält

Obwohl man eine solche Situation selten planen kann, gibt es ein paar Verhaltensweisen, die helfen können:

• Ruhe bewahren: Auch wenn es schwerfällt, Panik ist ein schlechter Ratgeber. Versuchen Sie, die Situation schnell zu erfassen.
• Umsichtig handeln: Versuchen Sie, wenn möglich, vor dem Überfahren der Ampel zu prüfen, ob der Bereich dahinter frei ist und keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Manchmal kann es auch ausreichen, nur ein kleines Stück über die Haltelinie zu fahren, um Platz zu schaffen, ohne die gesamte Kreuzung zu blockieren.
• Absicherung: Geben Sie ein klares Zeichen (Blinker), wohin Sie fahren wollen.
• Dokumentation: Machen Sie sich, wie oben beschrieben, so viele Notizen wie möglich direkt nach dem Ereignis.

Fazit: Keine Panik, aber proaktives Handeln ist gefragt

Ein Rotlichtverstoß, der durch das Platzmachen für ein Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn verursacht wurde, ist eine heikle, aber keineswegs aussichtslose Angelegenheit. Das Gesetz erkennt die besondere Verantwortung an, die Autofahrer in solchen Momenten tragen. Die Verpflichtung, einem Einsatzfahrzeug freie Bahn zu schaffen, hat in der Regel Vorrang vor der Einhaltung einer roten Ampel, vorausgesetzt, der Verstoß wurde aus Notwendigkeit und ohne weitere Gefährdung anderer begangen.

Entscheidend ist, nach Erhalt eines Bußgeldbescheids nicht zu zögern. Suchen Sie umgehend den Rat eines spezialisierten Anwalts für Verkehrsrecht. Dieser kann Ihnen helfen, den Einspruch fundiert zu begründen und Ihre Rechte wirksam zu vertreten. Mit den richtigen Argumenten und einer guten Dokumentation der Umstände stehen Ihre Chancen sehr gut, dass Ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Einsatzkräften nicht bestraft wird, sondern als das anerkannt wird, was es ist: eine notwendige Maßnahme im Dienste der Allgemeinheit.