Die Vorstellung von Flugtaxis, die uns mühelos über verstopfte Straßen hinweg zu unserem Ziel bringen, war lange Zeit Stoff für Science-Fiction. Doch dieses Zukunftsszenario rückt mit atemberaubender Geschwindigkeit in greifbare Nähe. Die **urbane Luftmobilität (UAM)**, angetrieben durch **elektrisch angetriebene vertikal startende und landende Flugzeuge (eVTOLs)**, verspricht, die Art und Weise, wie wir uns in Städten bewegen, grundlegend zu verändern. Im Zentrum dieses aufregenden Wettrennens stehen zwei prominente Akteure, die mit unterschiedlichen Ansätzen um die Vorherrschaft kämpfen: **Joby Aviation** und **Archer Aviation**. Wer von beiden wird den Himmel erobern und die **städtische Mobilität** wirklich revolutionieren?
### Die Vision der urbanen Luftmobilität: Ein neues Zeitalter der Fortbewegung
Die Versprechungen der UAM sind verlockend: Eine drastische Reduzierung der Reisezeiten in überlasteten Metropolen, eine Entlastung der Bodeninfrastruktur, und – dank elektrischer Antriebe – eine umweltfreundlichere Alternative zu herkömmlichen Verkehrsmitteln. Stell Dir vor, Du könntest Deinen Morgenkaffee trinken, während Du in einem leisen, emissionsfreien Flugtaxi über den Berufsverkehr schwebst.
Doch die Realität ist komplexer als die Vision. Der Weg zum kommerziellen Erfolg ist gesäumt von Herausforderungen: strenge Sicherheitsvorschriften, die Notwendigkeit robuster Infrastruktur (Vertiports), Lärmreduzierung, Kostenstrukturen und nicht zuletzt die Akzeptanz in der Bevölkerung. In diesem Spannungsfeld positionieren sich Joby und Archer, jeder mit einer einzigartigen Strategie, um diese Hürden zu überwinden und den Traum vom Flugtaxi Wirklichkeit werden zu lassen.
### Joby Aviation: Der erfahrene Pionier mit Langzeitstrategie
**Joby Aviation** gilt als einer der Pioniere im eVTOL-Sektor. Das Unternehmen wurde bereits 2009 gegründet und hat lange Zeit im Verborgenen geforscht und entwickelt. Diese frühe Startphase ermöglichte es Joby, ein erhebliches technologisches Vorsprung zu erarbeiten. Ihr Flaggschiff, das **Joby S4-Flugzeug**, ist ein beeindruckendes Beispiel für Ingenieurskunst.
Das S4-Flugzeug zeichnet sich durch sechs schwenkbare Propeller aus, die sowohl für den Vertikalstart und die Vertikallandung als auch für den Vorwärtsflug optimiert sind. Diese **Tilt-Rotor-Konfiguration** ermöglicht es, sowohl die Effizienz eines Starrflüglers als auch die Wendigkeit eines Hubschraubers zu vereinen. Mit einer angepeilten Reichweite von über 240 Kilometern und einer Höchstgeschwindigkeit von rund 320 km/h ist das Joby S4 darauf ausgelegt, auch längere städtische und interurbane Strecken zu bedienen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Geräuschreduzierung, ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz in dicht besiedelten Gebieten.
Jobys Geschäftsstrategie ist eine vertikale Integration. Das Unternehmen plant, nicht nur die Flugzeuge zu entwickeln und zu produzieren, sondern auch den Betrieb der Flugtaxi-Dienste selbst zu übernehmen. Dieser „Full-Stack”-Ansatz gibt Joby die volle Kontrolle über das Kundenerlebnis und die Betriebsabläufe. Um diese ehrgeizige Vision zu verwirklichen, hat Joby strategische Allianzen mit Schwergewichten geschlossen. **Toyota**, ein weltweit führender Automobilhersteller, bringt seine Expertise in der Massenproduktion und Qualitätssicherung ein. Mit **Delta Air Lines** hat Joby einen starken Partner für die Integration in bestehende Reisebuchungssysteme und die Erweiterung des First- und Last-Mile-Angebots für Premium-Kunden gefunden. Die Zusammenarbeit mit der **U.S. Air Force** im Rahmen des „Agility Prime”-Programms unterstreicht zudem die Zuverlässigkeit und potenziellen militärischen Anwendungen ihrer Technologie.
In Bezug auf die **Zulassung** ist Joby Aviation weit fortgeschritten. Sie waren das erste eVTOL-Unternehmen, das von der FAA (Federal Aviation Administration) eine „Part 135 Air Carrier & Operator Certificate” erhielt, was es ihnen ermöglicht, kommerzielle Flugdienste anzubieten, sobald das Flugzeug selbst zertifiziert ist. Sie arbeiten eng mit der FAA zusammen, um die Typenzulassung für ihr Flugzeug zu erhalten, ein komplexer und zeitaufwändiger Prozess.
### Archer Aviation: Der ambitionierte Herausforderer mit starken Allianzen
**Archer Aviation**, gegründet im Jahr 2018, ist ein relativ junger Akteur, hat aber in kürzester Zeit beachtliche Fortschritte gemacht und sich als ernstzunehmender Konkurrent etabliert. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem **Archer Midnight-Flugzeug**, das für kürzere, hochfrequente städtische Routen konzipiert wurde.
Das Midnight-Flugzeug verwendet eine **Lift-and-Cruise-Konfiguration** mit insgesamt zwölf Rotoren: sechs feste Rotoren für den Vertikalstart und die Landung sowie sechs weitere Propeller, die in den Flügeln integriert sind und für den Vorwärtsflug sorgen. Dieses Design zielt darauf ab, die Komplexität und den Wartungsaufwand zu reduzieren und gleichzeitig eine hohe Sicherheit zu gewährleisten. Mit einer angestrebten Reichweite von rund 160 Kilometern und einer Nutzlast von vier Passagieren plus Pilot ist Midnight ideal für innerstädtische Verbindungen, beispielsweise zwischen Flughäfen und Stadtzentren.
Archers Strategie unterscheidet sich von Joby. Statt den Betrieb selbst zu übernehmen, konzentrieren sie sich darauf, ihre Flugzeuge an Partner zu verkaufen und gemeinsame operative Ventures zu gründen. Diese Asset-Light-Strategie soll eine schnellere Skalierung ermöglichen. Ihre Partnerschaften sind von entscheidender Bedeutung: **United Airlines** ist nicht nur ein Investor und strategischer Partner, sondern auch ein Großkunde, der eine Bestellung über 200 Archer Midnight-Flugzeuge aufgegeben hat. Diese Zusammenarbeit sichert Archer nicht nur Kapital, sondern auch eine wichtige Pipeline für den Markteintritt. Eine weitere zentrale Allianz besteht mit **Stellantis**, einem der größten Automobilhersteller der Welt. Stellantis unterstützt Archer nicht nur finanziell, sondern bringt auch seine unschätzbare Expertise in der Massenproduktion, Lieferkettenmanagement und Qualitätssicherung ein, was entscheidend für die effiziente Fertigung von eVTOLs sein wird.
Auch Archer arbeitet intensiv an der **Zulassung** durch die FAA und hat ähnliche Meilensteine erreicht wie Joby, einschließlich des Erhalts der Part 135-Zertifizierung und der Fortschritte bei der Typenzulassung im Rahmen des Part 23-Prozesses (mit dem Übergang zu Part 21.17(b)). Die schnelle Entwicklung und aggressive Zeitpläne sind ein Markenzeichen von Archer.
### Technologie und Design im Detail: Unterschiede, die zählen
Der Kern des Wettbewerbs liegt in der **Technologie** und dem **Flugzeugdesign**.
* **Joby S4 (Tilt-Rotor):** Die schwenkbaren Rotoren bieten eine hervorragende Balance zwischen vertikaler Leistung und horizontaler Effizienz. Dies ermöglicht höhere Geschwindigkeiten und größere Reichweiten, was für interurbane Routen vorteilhaft ist. Der Kompromiss könnte in einer höheren mechanischen Komplexität und möglicherweise höheren Wartungskosten liegen. Joby betont auch seine Fähigkeit, leiser zu operieren als herkömmliche Helikopter, ein essenzieller Punkt für städtische Operationen.
* **Archer Midnight (Lift-and-Cruise):** Das Design mit festen und separaten Rotoren für Auftrieb und Vortrieb ist potenziell einfacher und robuster in der Konstruktion. Dies könnte zu geringeren Herstellungskosten und einfacherer Wartung führen. Das Midnight ist für kürzere, hochfrequente Flüge optimiert, bei denen die maximale Reichweite weniger kritisch ist als die Effizienz auf kurzen Distanzen und die schnelle Umlaufzeit.
Beide Unternehmen setzen auf hochmoderne elektrische Antriebssysteme und fortschrittliche Batterietechnologien, die entscheidend für Leistung, Reichweite und Sicherheit sind. Redundanz in allen kritischen Systemen ist eine Top-Priorität, um die höchsten Sicherheitsstandards zu erfüllen.
### Zulassung und regulatorische Hürden: Der Schlüssel zum Himmel
Die größte Herausforderung für beide Unternehmen bleibt die **Zulassung** ihrer Flugzeuge durch die Luftfahrtbehörden wie die FAA in den USA oder die EASA in Europa. Diese Prozesse sind extrem aufwendig, erfordern Tausende von Teststunden und umfangreiche Dokumentationen, um zu beweisen, dass die Flugzeuge die strengsten Sicherheitsstandards erfüllen.
Die FAA hat einen speziellen Zertifizierungsprozess für eVTOLs entwickelt, der Elemente aus der Zertifizierung von Kleinflugzeugen (Part 23) und Drehflüglern (Part 27/29) kombiniert und zu einem neuen „Special Conditions” Ansatz nach Part 21.17(b) führt. Sowohl Joby als auch Archer sind hier Vorreiter und ihre Fortschritte werden den Weg für die gesamte Branche ebnen. Wer diese Hürde zuerst und am sichersten nimmt, erhält einen immensen Wettbewerbsvorteil.
Darüber hinaus müssen globale Standards und die Integration in den bestehenden Luftraum geklärt werden. Das erfordert nicht nur technische Lösungen, sondern auch die Zusammenarbeit mit Regierungen und Flugverkehrskontrolleinrichtungen weltweit.
### Geschäftsmodelle und Strategien für den Markteintritt
* **Jobys vertikale Integration:** Durch den Besitz und Betrieb der Flotte möchte Joby die volle Kontrolle über das Kundenerlebnis und die Preisgestaltung haben. Dies könnte höhere Anfangsinvestitionen bedeuten, aber potenziell auch höhere Margen, sobald der Betrieb läuft. Sie zielen auf einen Premium-Service ab, der Zeitersparnis für Geschäftsreisende und wohlhabende Privatpersonen bietet.
* **Archers Partnerschaftsmodell:** Der Ansatz, Flugzeuge an etablierte Fluggesellschaften wie United Airlines zu verkaufen, ermöglicht eine schnellere Expansion ohne die volle Last des operativen Risikos. United kann die eVTOLs in ihr bestehendes Netzwerk integrieren und ihren Kunden ein erweitertes Mobilitätsangebot machen. Dies könnte zu einer breiteren Akzeptanz und schnelleren Marktdurchdringung führen.
### Die Rolle der Partnerschaften: Ein Katalysator für den Erfolg
Die Bedeutung strategischer Partnerschaften kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
* **Joby mit Toyota und Delta:** Toyota bringt unübertroffene Expertise in der Lean-Produktion und Qualitätssicherung mit, was für die Skalierung der Fertigung entscheidend ist. Delta sorgt für die Integration in ein etabliertes Reiseökosystem und Zugang zu einem großen Kundenstamm.
* **Archer mit Stellantis und United:** Stellantis bietet nicht nur Kapital, sondern vor allem die Fähigkeit zur Automobil-Massenproduktion, die für die kostengünstige Herstellung von eVTOLs unerlässlich ist. United liefert einen sicheren Abnahmevertrag, operative Erfahrung im Luftverkehr und Zugang zu einem globalen Netzwerk.
Diese Allianzen sind nicht nur finanzielle Absicherungen, sondern auch strategische Hebel, um die größten Herausforderungen – Produktion, Betrieb und Marktzugang – zu meistern.
### Herausforderungen und Zukunftsperspektiven
Abseits der technologischen und regulatorischen Hürden stehen beide Unternehmen vor weiteren großen Aufgaben:
* **Infrastruktur:** Der Bau von **Vertiports** in Städten und an Flughäfen ist eine massive logistische und finanzielle Herausforderung.
* **Öffentliche Akzeptanz:** Geräuschpegel, Sicherheitsempfinden und die Frage, ob Flugtaxis eine elitäre oder massentaugliche Lösung werden, sind entscheidend.
* **Kostenreduzierung:** Um UAM für eine breitere Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen, müssen die Betriebskosten und somit die Ticketpreise deutlich gesenkt werden.
* **Wettbewerb:** Neben Joby und Archer gibt es zahlreiche andere Akteure wie Lilium, Volocopter, Wisk (unter Boeing) und Hyundai, die ebenfalls um ihren Anteil am Himmel kämpfen.
### Wer gewinnt den Kampf um den Himmel?
Eine definitive Antwort auf die Frage, wer den Kampf um den Himmel gewinnt, ist heute noch nicht möglich. Beide Unternehmen haben beeindruckende Fortschritte gemacht und sich in eine vielversprechende Position gebracht.
**Joby Aviation** profitiert von seinem frühen Start, der ausgereifteren Technologie und dem Bestreben, das gesamte Ökosystem zu kontrollieren. Sie haben einen substanziellen Vorsprung bei der Zertifizierung und bewiesen die Fähigkeiten ihres Flugzeugs.
**Archer Aviation** hingegen zeigt, wie man mit einer aggressiven Strategie und mächtigen Industriepartnerschaften schnell aufholen kann. Ihr Fokus auf kürzere, hochfrequente Routen und das Asset-Light-Modell könnten sich als vorteilhaft für eine schnelle Skalierung erweisen. Die Unterstützung durch Stellantis und United ist ein mächtiges Ass im Ärmel.
Es ist durchaus denkbar, dass es keinen alleinigen Sieger geben wird. Der Markt für urbane Luftmobilität ist riesig und könnte Platz für mehrere Anbieter bieten, die sich möglicherweise auf unterschiedliche Marktsegmente oder geografische Regionen konzentrieren. Joby könnte auf Premium-Dienste und längere Strecken abzielen, während Archer den Massenmarkt für Kurzstreckenflüge bedient.
Letztendlich ist der wahre Gewinner nicht Joby oder Archer, sondern die Gesellschaft, die von einer effizienteren, leiseren und umweltfreundlicheren urbanen Mobilität profitieren wird. Der Kampf um den Himmel hat gerade erst begonnen, und die nächsten Jahre werden entscheidend sein, um zu sehen, welche Vision die Oberhand gewinnt und unsere Städte buchstäblich auf ein neues Niveau hebt. Wir stehen am Vorabend einer Revolution, und der Himmel war noch nie so nah.