Die große Kaufberatung: Lohnt es sich heute noch, einen W211 zu kaufen?

Der Mercedes-Benz W211, die E-Klasse der Baujahre 2002 bis 2009, verkörpert für viele noch immer den Inbegriff der souveränen Reiselimousine. Mit seinem eleganten Design, dem hohen Komfort und den leistungsstarken Motoren setzte er Maßstäbe in der oberen Mittelklasse. Heute, gut anderthalb Jahrzehnte nach seinem Produktionsende, ist der W211 auf dem Gebrauchtwagenmarkt zu teils verlockend niedrigen Preisen zu finden. Doch die Frage, die sich angehende Besitzer stellen müssen, ist: Lohnt es sich wirklich, heute noch einen W211 zu kaufen? Ist er ein Schnäppchen mit Potenzial oder ein Fass ohne Boden? Dieser umfassende Ratgeber beleuchtet die Facetten des W211-Kaufs im Jahr 2024.

Warum der W211 immer noch begeistert: Die Faszination bleibt

Der Reiz eines W211 ist unbestreitbar. Seine Linienführung wirkt auch heute noch zeitlos und elegant, eine gelungene Mischung aus Klassik und Moderne. Im Innenraum überzeugt er mit einem großzügigen Platzangebot, hochwertigen Materialien und einer Anmutung, die man in dieser Preisklasse heute kaum noch findet. Viele Funktionen, die damals innovativ waren – von der Memory-Funktion für Sitze über das Command-Navigationssystem bis hin zur sensiblen Klimaanlage – sind auch heute noch nützlich und tragen zum Komfort und Luxusgefühl bei.

Fahrerisch punktet der W211 mit einem ausgewogenen Fahrwerk, das sowohl komfortables Gleiten als auch sicheres Handling ermöglicht. Die Motorenpalette war breit gefächert und bot für jeden Geschmack das Richtige: von sparsamen Vierzylinder-Dieseln über kräftige V6-Benziner und Diesel bis hin zu den brachialen V8-Kompressor-Aggregaten der AMG-Modelle. Besonders die Sechszylinder-Aggregate, wie der OM642 Diesel oder die M112/M272 Benziner, bieten eine hervorragende Kombination aus Leistung und Laufkultur.

Ein weiterer Pluspunkt ist die hohe passive Sicherheit. Der W211 war seiner Zeit voraus und bot bereits zahlreiche Airbags sowie eine steife Karosserie, die im Falle eines Unfalls gute Schutzeigenschaften aufweist. Viele schätzen zudem die oft sprichwörtliche Mercedes-Benz-Qualität, die sich in der Robustheit vieler Bauteile und der Langlebigkeit der Antriebe manifestierte – zumindest, wenn man die typischen Schwachstellen kennt und beachtet.

Die Schattenseiten: Worauf man beim W211 Kauf besonders achten muss

So verlockend die niedrigen Anschaffungspreise auch sein mögen, der W211 ist kein Auto ohne Tücken. Viele Exemplare haben bereits hohe Laufleistungen hinter sich, und der Zahn der Zeit nagt an manchen Stellen. Die größten und bekanntesten Schwachstellen des W211 sind:

1. Rost: Ein ungeliebtes Erbe

Mercedes-Benz hatte um die Jahrtausendwende ein Problem mit Rostvorsorge, das auch den W211 betraf, insbesondere die frühen Baujahre (bis zum Facelift 2006). Typische Roststellen finden sich an:

• Radläufen (vorne und hinten)
• Türkanten und -unterseiten
• Kofferraumdeckel (besonders um den Griff und die Kennzeichenbeleuchtung)
• Federaufnahmen an der Hinterachse
• Motorhaube (an den Kanten)
• Schwellerbereichen

Eine gründliche Inspektion auf Rost ist unerlässlich. Leichter Oberflächenrost lässt sich oft noch beheben, aber durchrostete Stellen können kostspielige Reparaturen nach sich ziehen und sind ein Zeichen für mangelnde Pflege.

2. Elektronik: Das Herzstück mit Macken

Der W211 war vollgepackt mit Elektronik, was zu seiner Zeit modern war, heute aber für Probleme sorgen kann. Die prominenteste und potenziell teuerste Achillesferse ist die SBC-Bremse (Sensotronic Brake Control). Dieses elektrohydraulische Bremssystem war in Vor-Mopf-Modellen (bis zum Facelift 2006) verbaut und ist für seine begrenzte Lebensdauer bekannt. Wenn die vorgegebene Anzahl an Bremszyklen erreicht ist, muss die SBC-Einheit getauscht werden. Mercedes-Benz hat zwar Kulanzregelungen erlassen und die Lebensdauer oft verlängert, aber ein Ausfall kann teuer werden. Beim Kauf eines Vor-Mopf-Modells sollte unbedingt geklärt sein, wann die SBC-Einheit zuletzt getauscht oder überprüft wurde. Ab dem Facelift entfiel die SBC-Bremse zugunsten eines konventionellen Systems.

Weitere elektronische Sorgenkinder sind:

• SAM-Module (Signal-Erfass- und Ansteuer-Module): Diese Steuergeräte sind für viele elektrische Funktionen zuständig und können bei Feuchtigkeit oder Alterung ausfallen, was zu vielfältigen Fehlfunktionen führt (z.B. Beleuchtung, Fensterheber).
• Komfortelektronik: Ausfälle bei elektrischen Fensterhebern, Sitzheizungen, Klimaanlagen-Komponenten oder dem COMAND-System sind keine Seltenheit.
• Batterieentladung: Unklare Stromverbraucher können die Batterie entleeren, was oft schwer zu diagnostizieren ist.

3. Motor und Getriebe: Die Triebwerke unter der Lupe

Die Motoren des W211 sind grundsätzlich robust, haben aber modell- und baureihenspezifische Schwachstellen:

• M272/M273 Benziner (V6/V8 ab 2004): Bekannt für Probleme mit dem Kettenrad der Ausgleichswelle (M272) oder der Nockenwellenversteller (M272/M273). Dies führt zu einem erhöhten Verschleiß und kann einen Motorschaden zur Folge haben. Eine Reparatur ist sehr aufwendig und teuer (Motor muss dazu oft ausgebaut werden). Unbedingt prüfen, ob dies bereits behoben wurde oder ob die Motor-Seriennummer außerhalb des kritischen Bereichs liegt.
• OM642 Diesel (V6 CDI ab 2005): Potenziell anfällig für undichte Ölkühler (was zu massivem Ölverlust führen kann), verschmutzte Drallklappen im Ansaugtrakt und Injektoren. Diese Probleme sind reparabel, aber ebenfalls kostspielig.
• OM646 Diesel (R4 CDI): Gilt als relativ robust, aber auch hier können Injektoren und Turbolader bei hohen Laufleistungen Probleme bereiten.
• Automatikgetriebe (7G-Tronic): Generell zuverlässig, aber regelmäßige Ölwechsel (alle 60.000 km) sind absolut entscheidend für die Langlebigkeit. Unsaubere Schaltvorgänge oder Ruckeln sind Warnsignale.

4. Fahrwerk: Luft oder Stahl?

Der W211 war optional mit dem Luftfahrwerk Airmatic DC erhältlich. Dieses System bietet exzellenten Fahrkomfort und eine Niveauregulierung, ist aber im Alter eine potenzielle Kostenfalle. Defekte am Kompressor, undichte Luftbälge oder Steuergeräte sind typische Mängel. Eine Reparatur ist teuer, da die Ersatzteile original sind und der Wechsel aufwendig ist. Fahrzeuge mit dem konventionellen Stahlfahrwerk sind in dieser Hinsicht unkomplizierter und günstiger im Unterhalt.

Kaufberatung: Der Blick unter die Haube

Ein W211-Kauf erfordert eine sorgfältige Herangehensweise. Hier sind die wichtigsten Punkte, die Sie beachten sollten:

1. Servicehistorie: Ein vollständig geführtes Scheckheft, idealerweise von Mercedes-Benz-Werkstätten oder spezialisierten freien Werkstätten, ist Gold wert. Es gibt Aufschluss über erfolgte Wartungen, Reparaturen und den allgemeinen Pflegezustand. Fehlende oder lückenhafte Historien sind ein großes Warnsignal.
2. Vor-Mopf vs. Mopf: Generell sind die Mopf-Modelle (ab 2006) empfehlenswerter, da viele der Kinderkrankheiten (SBC, Rostvorsorge verbessert, M272/M273 mit überarbeiteten Teilen) behoben wurden.
3. Rostkontrolle: Nehmen Sie sich Zeit und prüfen Sie alle genannten Roststellen akribisch, auch unter Gummidichtungen und Verkleidungen.
4. Elektronikprüfung: Testen Sie JEDE elektrische Funktion im Fahrzeug – Fensterheber, Spiegel, Sitzverstellung, Klimaanlage, Radio, Navigation, Scheinwerfer, Scheibenwischer, etc. Achten Sie auf Fehlermeldungen im Display.
5. Motorlauf und Getriebe: Der Motor sollte kalt gestartet werden. Achten Sie auf ungewöhnliche Geräusche (Rasseln beim M272/M273, Nageln beim Diesel, etc.), blauen oder weißen Rauch aus dem Auspuff. Bei der Probefahrt sollten Sie auf sanfte Schaltvorgänge des Automatikgetriebes achten – kein Ruckeln, kein Schlagen.
6. Airmatic: Bei Modellen mit Airmatic prüfen Sie, ob das Fahrzeug gleichmäßig steht und ob die Niveauregulierung funktioniert (hoch- und runterfahren). Achten Sie auf Zischgeräusche beim Anheben oder Senken.
7. Probefahrt: Fahren Sie nicht nur kurz um den Block. Testen Sie das Fahrzeug auf verschiedenen Straßenbelägen, bei verschiedenen Geschwindigkeiten, bremsen Sie kräftig (auf gerader Strecke ohne Verkehr), und achten Sie auf Geräusche vom Fahrwerk oder Lenkung.
8. Kauf vom Händler oder Privat: Beim Händler haben Sie Gewährleistung, die bei einem älteren Fahrzeug viel wert sein kann. Privatkäufe sind oft günstiger, bergen aber ein höheres Risiko.
9. Gebrauchtwagencheck: Im Idealfall lassen Sie das Fahrzeug vor dem Kauf bei einer unabhängigen Werkstatt oder beim ADAC auf Herz und Nieren prüfen. Die Investition lohnt sich.

Betriebskosten: Was kostet der Luxus im Alltag?

Die Anschaffungskosten sind nur ein Teil der Gleichung. Ein W211, auch wenn er günstig gekauft wurde, ist immer noch ein Oberklassefahrzeug von Mercedes-Benz. Die Wartungs- und Ersatzteilkosten sind entsprechend hoch.

• Verbrauch: Die Vierzylinder-Diesel sind relativ sparsam (ca. 6-8l/100km). V6-Diesel liegen bei 7-10l/100km. Die Benziner sind durstiger: V6-Benziner selten unter 9-11l/100km, V8 deutlich darüber.
• Versicherung und Steuer: Hängen stark vom Modell, Motorisierung und Ihren persönlichen Faktoren ab. Gerade größere Motoren können hier ins Geld gehen.
• Ersatzteile: Originalteile von Mercedes-Benz sind teuer. Im freien Zubehörhandel gibt es oft günstigere Alternativen, aber nicht immer in gleicher Qualität.
• Werkstattkosten: Eine freie Werkstatt, die sich mit Mercedes-Benz auskennt, ist oft deutlich günstiger als die Vertragswerkstatt. Planen Sie aber dennoch hohe Arbeitsstundenlöhne ein.
• Unvermeidliche Reparaturen: Egal wie gut das Exemplar ist, ein über 15 Jahre altes Auto wird immer wieder etwas brauchen. Ein finanzielles Polster von 1.500 bis 3.000 Euro pro Jahr für Reparaturen und Wartung sollte einkalkuliert werden, um böse Überraschungen zu vermeiden.

Welche Ausstattung und Motorisierung sind empfehlenswert?

• Ausstattungslinie: „Elegance” bietet mehr Komfort und klassische Holzapplikationen, „Avantgarde” ist sportlicher mit dunkleren Hölzern/Alu und strafferer Fahrwerksabstimmung. Beides ist Geschmackssache.
• Motorisierung:
  • Für Vielfahrer: Der E220 CDI (OM646) oder E270/E320 CDI (OM612/OM613) vor dem V6-Diesel gelten als robust und sparsam. Die späteren V6-Diesel (OM642) bieten mehr Leistung, sind aber wartungsintensiver.
  • Für Wenigfahrer/Kurzstrecke: Die kleineren Benziner E240 (M112) oder E200 Kompressor (M271, auf Kettenprobleme achten) können eine Option sein, sind aber oft durstiger als moderne Autos. Die M112 V6-Benziner (E240, E320) sind grundsätzlich sehr robust und laufruhig, aber ebenfalls nicht die sparsamsten. Die M272/M273 Modelle sollten nur in Betracht gezogen werden, wenn die Ausgleichswelle/Nockenwellenproblematik nachweislich behoben wurde.
• Sonderausstattungen: Xenon-Licht, Ledersitze, Memory-Sitze, Schiebedach und das COMAND-Navi werten das Fahrzeug auf und sind auch heute noch angenehm. Die Airmatic ist ein Komfortgewinn, aber eine potenzielle Kostenfalle.

Fazit: Lohnt sich der W211 heute noch?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht pauschal „Ja” oder „Nein”, sondern ein klares „Es kommt darauf an!”.

Ja, es lohnt sich, einen W211 zu kaufen, wenn:

• Sie einen gut gepflegten Mopf-Modell (Facelift ab 2006) mit lückenloser Servicehistorie finden.
• Sie bereit sind, ein finanzielles Polster für Wartung und mögliche Reparaturen einzuplanen.
• Sie die Charakteristika eines älteren Premiumfahrzeugs schätzen und nicht die Sorglosigkeit eines Neuwagens erwarten.
• Sie ein gewisses technisches Verständnis mitbringen oder eine zuverlässige und preiswerte freie Werkstatt an der Hand haben.
• Sie den Komfort und das Fahrgefühl eines klassischen Mercedes-Benz zu schätzen wissen.

Nein, es lohnt sich nicht, einen W211 zu kaufen, wenn:

• Sie das absolut günstigste Angebot ohne Rücksicht auf Zustand oder Historie suchen.
• Ihr Budget sehr knapp bemessen ist und Sie keine Rücklagen für Reparaturen haben.
• Sie ein „Plug-and-Play”-Auto erwarten, das keine Aufmerksamkeit erfordert.
• Sie keine Möglichkeit haben, das Fahrzeug vor dem Kauf gründlich zu prüfen.

Der Mercedes-Benz W211 ist nach wie vor eine beeindruckende Limousine, die viel Luxus und Fahrfreude für relativ wenig Geld bietet. Er kann ein hervorragender Begleiter sein, wenn man seine Eigenheiten kennt und bereit ist, ihm die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Eine gründliche Recherche, eine detaillierte Prüfung vor dem Kauf und ein realistisches Budget sind der Schlüssel zu einer glücklichen Beziehung mit diesem modernen Klassiker. Mit der richtigen Wahl und etwas Pflege kann der W211 noch viele Jahre Freude bereiten und ist ein echtes Schnäppchen im Premium-Segment.