Kurslos in die E-Mobilität? Hat VW überhaupt noch einen klaren Plan für die Zukunft?

Die Automobilindustrie durchlebt eine Transformation von historischem Ausmaß. Der Verbrennungsmotor, einst das Herzstück deutscher Ingenieurskunst und globaler Dominanz, weicht schrittweise dem leisen Summen von Elektromotoren. Mittendrin in diesem Epochenwandel: Volkswagen. Der Wolfsburger Konzern, ein Gigant der Branche, hat sich früh und scheinbar kompromisslos der Elektromobilität verschrieben. Doch trotz immenser Investitionen und ambitionierter Ankündigungen beschleicht viele Beobachter, Aktionäre und selbst langjährige Kunden das Gefühl, dass VW momentan **kurslos** agiert. Hat Volkswagen tatsächlich seinen Kompass verloren, oder ist der Weg in die elektrische Zukunft einfach nur steiniger und unübersichtlicher, als man es sich anfangs vorstellte?

### Der kühne Aufbruch: Von „Dieselgate” zur E-Offensive

Nach der tiefgreifenden Vertrauenskrise durch den „Dieselgate”-Skandal im Jahr 2015 stand Volkswagen am Scheideweg. Die damalige Konzernführung unter Herbert Diess traf eine radikale Entscheidung: Die Zukunft des Unternehmens sollte elektrisch sein. Es war eine mutige Wende, die nicht nur eine Abkehr vom Verbrennungsmotor, sondern auch einen tiefgreifenden Kulturwandel versprach. Die Ambitionen waren enorm: Eine Milliardensumme sollte in die Entwicklung von **Elektrofahrzeugen** und entsprechenden Plattformen fließen.

Das Ergebnis dieser frühen Offensive war die Entwicklung des Modularen E-Antriebs-Baukastens (MEB) – eine dezidierte Plattform für Elektroautos, die den Grundstein für eine ganze Familie von E-Modellen legen sollte, beginnend mit dem **ID.3** und **ID.4**. Werke wurden umgerüstet, Lieferketten neu gedacht, und die Batteriezellenproduktion sollte im eigenen Haus vorangetrieben werden. VW positionierte sich als Speerspitze der Transformation, mit dem Ziel, zum weltweit führenden Anbieter von Elektrofahrzeugen aufzusteigen und Tesla Konkurrenz zu machen. Die Aufbruchsstimmung war spürbar, und viele sahen in diesem klaren Bekenntnis einen Weg aus der Krise und in eine neue Ära der Mobilität.

### Windböen und Gegenströmungen: Die sichtbaren Herausforderungen

Doch die Reise ins elektrische Zeitalter hat sich für Volkswagen als wesentlich turbulenter erwiesen, als ursprünglich geplant. Diverse Rückschläge und hausgemachte Probleme haben das Bild vom visionären Vorreiter getrübt und die Frage nach einem klaren Kurs immer lauter werden lassen.

**1. Die Achillesferse Software: Cariad und die verlorenen PS**
Das vielleicht größte und sichtbarste Problem war und ist die **Software**. Der Start des ID.3 und ID.4 wurde von erheblichen Softwarefehlern überschattet. Kunden berichteten von Abstürzen, fehlenden Funktionen und einer insgesamt unreifen User Experience. Die eigens dafür gegründete Software-Tochter **Cariad** sollte VW zum Software-Powerhouse machen, doch stattdessen wurde sie zum Symbol für Verzögerungen und interne Konflikte. Wichtige Modelle wie der elektrische Audi A6 e-tron, der Porsche Macan EV und weitere Fahrzeuge wurden aufgrund von Softwareproblemen immer wieder verschoben. Die Entwicklungsgeschwindigkeit, entscheidend im Software-Bereich, konnte mit der Konkurrenz, insbesondere Tesla, nicht mithalten.

**2. Der gnadenlose Wettbewerb: Tesla, China und die traditionellen Rivalen**
Als VW seine E-Offensive startete, war Tesla der primäre Benchmark. Doch seitdem hat sich das Feld dramatisch verändert. Chinesische Hersteller wie BYD, Nio, Xpeng oder Geely sind mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit und Aggressivität auf den Markt gedrängt und bieten technisch ausgereifte, oft preislich attraktive Elektrofahrzeuge an. Hyundai und Kia haben mit Modellen wie dem Ioniq 5 oder EV6 bewiesen, dass sie designtechnisch und technologisch ganz vorne mitspielen können. Auch traditionelle Konkurrenten wie Stellantis oder General Motors haben ihre E-Strategien massiv beschleunigt. VW sieht sich plötzlich einem viel breiteren und innovativeren Wettbewerb gegenüber, der nicht nur auf etablierten Märkten, sondern besonders in China, dem größten Automobilmarkt der Welt, massiv Druck ausübt.

**3. Führungswechsel und Strategiewechsel: Unruhe an der Spitze**
Die Ära Diess, die von einem kompromisslosen Fokus auf E-Mobilität und Digitalisierung geprägt war, endete abrupt. Sein Nachfolger, Oliver Blume, der in Personalunion auch Porsche führt, hat eine Anpassung des Kurses vorgenommen. Der Fokus liegt nun stärker auf Profitabilität, Wertschöpfung und einer breiteren Technologiestrategie, die auch den Verbrenner nicht sofort komplett abschreibt. Während dies als pragmatischer Schritt gewertet werden kann, um das operative Geschäft zu stabilisieren, birgt jeder Führungswechsel auch das Risiko einer gewissen Inkonsistenz in der langfristigen **Strategie**. Für Außenstehende kann dies als Zick-Zack-Kurs wahrgenommen werden.

**4. Portfolio-Komplexität und Marken-Kannibalismus**
Der VW-Konzern ist ein Vielmarkenhaus mit Marken wie VW, Audi, Porsche, Skoda, Seat, Cupra und Lamborghini. Diese Breite ist historisch eine Stärke, wird aber in der Ära der Elektromobilität zur Herausforderung. Wie differenziert man die Elektrofahrzeuge der einzelnen Marken klar voneinander ab, wenn sie auf ähnlichen Plattformen basieren und ähnliche Technologien nutzen? Es besteht die Gefahr, dass sich die Marken gegenseitig Konkurrenz machen, anstatt gemeinsam den Markt zu erobern. Die Abgrenzung und klare Positionierung jedes Elektro-Modells ist entscheidend, um den internen **Wettbewerb** zu minimieren und Kunden eine klare Wahl zu bieten.

### Ist wirklich alles **kurslos**? Die verborgenen Stärken und Gegenargumente

Trotz der genannten Herausforderungen wäre es verfehlt, Volkswagen als gänzlich **kurslos** abzuschreiben. Der Konzern verfügt über immense Stärken und hat in den letzten Monaten auch Schritte unternommen, um die Probleme anzugehen.

**1. Industrielle Größe und Skaleneffekte:**
Volkswagen ist nach wie vor einer der größten Automobilhersteller der Welt. Diese industrielle **Skalierung** ermöglicht enorme Vorteile bei Einkauf, Produktion und globaler Distribution. Die Fertigung von Millionen von Fahrzeugen weltweit gibt VW eine Macht, von der Start-ups nur träumen können. Die Lernkurve in der Elektroauto-Produktion ist steil, und hier kann die Erfahrung und die globale Präsenz von VW langfristig punkten.

**2. Investitionen in die Wertschöpfungskette:**
VW hat nicht nur in die Fahrzeugentwicklung investiert, sondern auch massiv in die gesamte **Wertschöpfungskette** der Elektromobilität. Dazu gehören:
* **Batteriezellenproduktion:** Mit PowerCo baut VW eigene Gigafactories auf, um die Abhängigkeit von externen Zulieferern zu reduzieren und die Kontrolle über eine Schlüsseltechnologie zu erlangen.
* **Ladeinfrastruktur:** Beteiligungen an Ionity und der Aufbau eigener Ladenetzwerke sind entscheidend für die Akzeptanz und Nutzbarkeit von Elektrofahrzeugen.
* **Rohstoffbeschaffung:** Strategische Partnerschaften zur Sicherung von Rohstoffen wie Lithium und Kobalt sind in Planung oder bereits umgesetzt.

**3. Technologische Plattformen und zukünftige Architekturen:**
Der MEB war ein Anfang, aber VW arbeitet bereits an der nächsten Generation: der **SSP-Plattform** (Scalable Systems Platform), die ab 2026/2027 als einheitliche Architektur für alle Marken dienen soll. Diese Plattform soll noch flexibler, effizienter und softwarezentrierter sein. Wenn VW die Software-Probleme bis dahin in den Griff bekommt, könnte die SSP ein echter Game-Changer werden.

**4. Sanierung von Cariad und Fokus auf Qualität:**
Unter neuer Führung wird Cariad massiv restrukturiert und auf Effizienz getrimmt. Der Fokus liegt nun stärker auf der termingerechten Lieferung stabiler Software-Versionen, statt auf zu vielen parallel entwickelten Projekten. Zudem hat die Konzernführung betont, dass Qualität und Stabilität oberste Priorität haben, bevor neue Funktionen ausgerollt werden. Das ist ein wichtiger Schritt, um das Vertrauen der Kunden zurückzugewinnen.

**5. Konkrete Produktpläne für den Massenmarkt:**
VW hat erkannt, dass Elektroautos nicht nur für Premium-Segmente gedacht sein können. Mit dem **ID.2all** und seinen Geschwistern von Skoda und Cupra sind Modelle unter 25.000 Euro in Planung, die ab 2025 auf den Markt kommen sollen. Dies ist entscheidend, um die Elektromobilität massentauglich zu machen und gegen die preisaggressiven chinesischen Hersteller zu bestehen.

**6. Anpassung der China-Strategie:**
Volkswagen hat die Zeichen der Zeit in China erkannt und passt seine Strategie an. Statt nur europäische Modelle anzupassen, wird nun stärker auf lokale Entwicklung, schnellere Innovationszyklen und Joint Ventures mit chinesischen Partnern gesetzt, um den spezifischen Bedürfnissen des chinesischen Marktes gerecht zu werden. Dies ist eine späte, aber notwendige Erkenntnis.

### Der Weg nach vorn: Klare Linien im Nebel

Die Frage, ob Volkswagen **kurslos** ist, lässt sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Es ist eher eine Phase der Neuausrichtung und des schmerzhaften Lernens. Der Konzern hat Fehler gemacht und wichtige Zeit verloren, aber er ist auch kein hilfloses Schiff im Sturm. Um jedoch wieder einen klaren Kurs zu finden und seine führende Rolle in der globalen Automobilindustrie zu behaupten, muss Volkswagen in den kommenden Jahren folgende Punkte konsequent umsetzen:

* **Software-Exzellenz:** Die **Cariad**-Sanierung muss fruchten. Stabile, intuitive und OTA-updatefähige Software ist das A und O für moderne Elektroautos. Hier muss VW nicht nur aufholen, sondern auch Innovationsführer werden.
* **Beschleunigte Entwicklung:** Die Innovationszyklen müssen drastisch verkürzt werden, um mit der agilen Konkurrenz, insbesondere aus China, mithalten zu können.
* **Kostenführerschaft und Preisattraktivität:** Die Entwicklung und Produktion von **Elektrofahrzeugen** muss effizienter werden, um wettbewerbsfähige Preise im Massenmarkt anbieten zu können. Das beinhaltet auch die Reduzierung der Batteriekosten.
* **Klare Markenpositionierung:** Jede Marke im Konzern muss eine einzigartige und überzeugende elektrische Identität entwickeln, um Kunden anzusprechen und internen Wettbewerb zu vermeiden.
* **Konsequente Kommunikation:** Eine klare, konsistente und glaubwürdige Kommunikation der Strategie nach innen und außen ist unerlässlich, um Vertrauen bei Mitarbeitern, Investoren und Kunden aufzubauen.
* **Fokus auf den Kunden:** Die gesamte Customer Journey – von der Kaufberatung über das Laden bis zum Service – muss zu einem Premium-Erlebnis werden, das die Kundenbindung stärkt.

### Fazit: Kein leichter Weg, aber noch nicht verloren

Volkswagen steht vor der größten Herausforderung seiner jüngeren Geschichte. Die frühe und mutige Entscheidung für die **E-Mobilität** war richtig, doch die Umsetzung war holprig. Die Wahrnehmung, **kurslos** zu sein, rührt vor allem von den Softwareproblemen, den Führungswechseln und der Geschwindigkeit des Wettbewerbs her.

Doch es gibt auch viele Lichtblicke: Die immensen Investitionen, die Stärke der Marken, die geplanten Plattformen und die Anpassungen in der Strategie zeigen, dass Volkswagen lernfähig ist und über die nötigen Ressourcen verfügt. Ob der Konzern seinen Kompass wieder vollständig ausrichten und zu alter Stärke zurückfinden kann, hängt maßgeblich davon ab, wie konsequent und fehlerfrei die kommenden Jahre gestaltet werden. Der Weg ist steinig, aber das Potenzial ist immer noch da, um im globalen Rennen um die elektrische Zukunft eine führende Rolle zu spielen. Es ist ein Kampf um die Zukunft, der in Wolfsburg entschieden wird – und die Welt blickt gespannt zu.