Jeder kennt es: Man betritt einen Bus oder eine Bahn und sucht nach einem freien Platz. Doch während einige Sitze sofort besetzt sind, scheinen die Viersitzer oft wie verwaist dazustehen. Selbst wenn der öffentliche Nahverkehr proppenvoll ist, zögern viele, sich auf einen solchen Platz zu setzen, wenn er nicht vollständig frei ist. Warum aber ist das so? Welche ungeschriebenen Regeln und psychologischen Faktoren spielen dabei eine Rolle? Dieser Artikel beleuchtet die Gründe für dieses Phänomen und untersucht, warum das Sitzen auf einem Viersitz in Bahn und Bus so oft vermieden wird.
Die Macht der persönlichen Distanz
Ein wesentlicher Faktor ist die sogenannte persönliche Distanz. Der Anthropologe Edward T. Hall prägte den Begriff und definierte vier verschiedene Distanzzonen: Intime Distanz (bis 45 cm), Persönliche Distanz (45 cm bis 1,2 m), Soziale Distanz (1,2 m bis 3,6 m) und Öffentliche Distanz (über 3,6 m). In Bahn und Bus sind wir gezwungen, uns in einem Raum mit Fremden aufzuhalten, der oft die persönliche Distanzzone unterschreitet. Dies kann unangenehm sein, da wir uns unwohl fühlen, wenn uns unbekannte Personen zu nahe kommen.
Ein Viersitzer verstärkt dieses Gefühl noch. Wenn bereits eine Person dort sitzt, betreten wir quasi ihren „Territorium”. Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns direkt neben sie setzen (was die persönliche Distanz stark reduziert) oder ob wir uns ihr gegenüber platzieren (was zwar mehr Distanz bietet, aber eine direkte Konfrontation erfordert). Beides kann unangenehm sein, besonders wenn die andere Person mit ihrem Handy beschäftigt ist, liest oder schläft. Der Gedanke, ihre Ruhe zu stören oder gar eine Interaktion zu erzwingen, hält viele davon ab, sich zu setzen.
Die Angst vor sozialer Interaktion
Eng verbunden mit der persönlichen Distanz ist die Angst vor sozialer Interaktion. Viele Menschen scheuen den Smalltalk oder die potentiell unangenehme Situation, die entstehen kann, wenn man sich neben einen Fremden setzt. Fragen wie „Ist hier noch frei?” oder ein unbehagliches Nicken zur Begrüßung können bereits als Belastung empfunden werden. Die Vorstellung, während der Fahrt ein Gespräch führen zu müssen, womöglich über belanglose Themen, ist für viele abschreckend. Das Vermeiden des Viersitzes ist also oft eine Strategie, um jegliche soziale Interaktion zu minimieren.
Dieser Aspekt wird durch die zunehmende Digitalisierung verstärkt. Viele Menschen nutzen die Fahrt mit Bahn und Bus, um sich in ihre Smartphones zu vertiefen, Musik zu hören oder zu lesen. Die Vorstellung, diese „digitale Blase” aufgeben zu müssen, um sich mit einem Fremden auseinanderzusetzen, ist für viele unattraktiv.
Die ungeschriebenen Regeln des sozialen Raums
In jeder Gesellschaft gibt es ungeschriebene Regeln, die das Verhalten in öffentlichen Räumen regeln. Diese Regeln sind selten explizit formuliert, werden aber von den meisten Menschen intuitiv verstanden und befolgt. Eine dieser Regeln besagt, dass man in öffentlichen Verkehrsmitteln unnötige Interaktionen mit Fremden vermeiden sollte. Das Sitzen auf einem Viersitz, wenn andere Plätze frei sind, wird oft als Grenzüberschreitung dieser Regel wahrgenommen.
Es gibt auch eine Art „Hierarchie” der Sitzplatzwahl. Zuerst werden in der Regel Einzelsitze oder Zweiersitze besetzt. Erst wenn diese voll sind, trauen sich die Leute, sich auf einen Viersitzer zu setzen. Und selbst dann wird oft versucht, so viel Abstand wie möglich zur bereits sitzenden Person zu halten, beispielsweise indem man sich diagonal gegenüber setzt.
Subjektive Faktoren und individuelle Präferenzen
Neben den oben genannten Faktoren spielen auch subjektive Faktoren und individuelle Präferenzen eine Rolle. Manche Menschen sind schlichtweg introvertiert und fühlen sich in der Nähe von Fremden unwohl. Andere haben schlechte Erfahrungen gemacht, beispielsweise mit aufdringlichen oder unangenehmen Mitfahrern, und meiden daher generell das Sitzen auf einem Viersitz. Wieder andere legen Wert auf Beinfreiheit und bevorzugen Sitze, an denen sie ihre Beine ausstrecken können, was auf einem Viersitzer oft schwieriger ist.
Auch das Alter und Geschlecht der bereits sitzenden Person können eine Rolle spielen. Viele Menschen fühlen sich unwohl, sich neben eine Person des anderen Geschlechts zu setzen, besonders wenn diese deutlich jünger oder älter ist. Die Angst vor falschen Interpretationen oder unbeabsichtigten Missverständnissen kann hier eine Rolle spielen.
Der Einfluss der Tageszeit und der Auslastung
Die Tageszeit und die Auslastung des öffentlichen Nahverkehrs haben ebenfalls einen Einfluss auf die Bereitschaft, sich auf einen Viersitzer zu setzen. In der Rushhour, wenn die Bahn oder der Bus ohnehin überfüllt sind, wird die Hemmschwelle niedriger. Dann überwiegt oft der Wunsch, überhaupt einen Sitzplatz zu ergattern, und die persönlichen Präferenzen treten in den Hintergrund. Außerhalb der Stoßzeiten, wenn genügend freie Plätze vorhanden sind, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass die Viersitzer leer bleiben.
Lösungsansätze und zukünftige Entwicklungen
Die Vermeidung von Viersitzern ist nicht nur ein psychologisches Phänomen, sondern kann auch zu einer ineffizienten Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs führen. In überfüllten Zügen und Bussen stehen Menschen, während gleichzeitig Viersitzer nur teilweise besetzt sind. Um dieses Problem zu lösen, gibt es verschiedene Lösungsansätze.
- Bewusstsein schaffen: Aufklärungskampagnen könnten das Bewusstsein für die ungeschriebenen Regeln schärfen und die Menschen ermutigen, sich auch auf Viersitzer zu setzen.
- Gestaltung des Innenraums: Die Gestaltung der Sitze und des Innenraums kann ebenfalls einen Einfluss haben. Beispielsweise könnten Sitze mit Armlehnen oder höheren Rückenlehnen die persönliche Distanz besser wahren und das Gefühl von Privatsphäre erhöhen.
- Technologische Lösungen: Apps oder Sensoren könnten anzeigen, wo noch freie Plätze sind und so die Sitzplatzwahl erleichtern.
Die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs wird sich auch durch neue Technologien und veränderte Mobilitätskonzepte weiterentwickeln. Autonomes Fahren, On-Demand-Verkehre und flexible Sitzplatzanordnungen könnten dazu beitragen, die Nutzung des öffentlichen Raums effizienter und angenehmer zu gestalten. Bis dahin bleibt die ungeschriebene Regel, den Viersitzer möglichst zu meiden, jedoch weiterhin bestehen.
Fazit
Das Vermeiden des Sitzens auf einem Viersitz in Bahn und Bus ist ein komplexes Phänomen, das von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird. Persönliche Distanz, Angst vor sozialer Interaktion, ungeschriebene Regeln und individuelle Präferenzen spielen dabei eine Rolle. Obwohl es Lösungsansätze gibt, um dieses Problem zu mindern, wird es wahrscheinlich weiterhin eine Rolle im öffentlichen Nahverkehr spielen. Wer also das nächste Mal in einem leeren Bus oder einer leeren Bahn steht und sich fragt, warum niemand auf dem Viersitzer sitzen will, kann sich nun ein besseres Bild von den Gründen machen.