Als Pokémon Schwert & Schild im November 2019 das Licht der Welt erblickte, waren die Erwartungen gigantisch. Es war das erste Hauptreihen-Pokémon-Spiel, das exklusiv für die Nintendo Switch, Nintendos Hybridkonsole, entwickelt wurde und damit den Sprung auf die große Leinwand schaffte. Die Versprechen waren hoch: eine neue Region, Galar, inspiriert von Großbritannien, neue Pokémon, dynamische Gigantamax-Formen und eine Open-World-ähnliche „Naturzone”. Doch statt universeller Jubelstürme sahen sich Entwickler Game Freak und Publisher Nintendo mit einer der polarisierendsten Reaktionen konfrontiert, die die Pokémon-Franchise je erlebt hatte. War der anfängliche Hype gerechtfertigt, oder wich er schnell einer tiefen Enttäuschung? Und wie steht die Community heute, Jahre später, wirklich zu diesen Titeln?
Der Aufbruch in eine neue Ära: Die Vorfreude und ihre Bürde
Die Ankündigung von Pokémon Schwert & Schild sorgte zunächst für immense Begeisterung. Fans träumten von einer grafisch beeindruckenden Welt, die die Möglichkeiten der Switch voll ausnutzt, von einem revolutionären Gameplay und einem Pokémon-Erlebnis, das die Serie auf ein neues Level hebt. Die ersten Trailer zeigten eine malerische Landschaft, neue charmante Pokémon wie Wolly und das Konzept der Naturzone, das eine neue Art der Erkundung versprach. Die Vorfreude war greifbar, denn nach über 20 Jahren auf Handheld-Konsolen schien der Wechsel auf die Switch der logische nächste Schritt für eine Evolution der Kernserie zu sein.
Die ersten Risse im Fundament: Kontroversen vor dem Release
Doch der Glanz der Vorfreude begann schnell zu verblassen, als erste kritische Details bekannt wurden, die weitreichende Diskussionen in der Pokémon-Community auslösten. Die wohl größte und folgenreichste Kontroverse war die sogenannte „Dexit”-Affäre.
Dexit: Der fehlende National-Dex und seine Folgen
Im Juni 2019 bestätigte Game Freak, dass Pokémon Schwert & Schild nicht alle bisher existierenden Pokémon enthalten würden. Ein Großteil der Fangemeinde war schockiert. Seit den Anfängen der Serie war es eine Selbstverständlichkeit, dass man alle jemals erschienenen Pokémon in die neuesten Spiele importieren und sammeln konnte. Game Freaks Begründung, man wolle sich auf die Qualität der verbleibenden Pokémon konzentrieren, bessere Animationen und hochauflösende Modelle erstellen, stieß auf breite Skepsis. Viele Fans wiesen schnell darauf hin, dass Modelle und Animationen oft recycelt wurden und nicht den Erwartungen an ein Next-Gen-Spiel entsprachen. Für viele langjährige Spieler war die Entfernung des National-Dex ein Verrat an einem Kernprinzip der Serie und ein Bruch mit der Sammelleidenschaft, die Pokémon seit jeher auszeichnet.
Grafik, Animationen und weitere Kritikpunkte
Neben dem Dexit gab es auch Kritik an der visuellen Präsentation. Die Grafik von Pokémon Schwert & Schild wurde von einigen als unzureichend für die Switch-Hardware empfunden, insbesondere im Vergleich zu anderen Exklusivtiteln wie The Legend of Zelda: Breath of the Wild oder Super Mario Odyssey. Die oft wiederholten und simplen Kampf-Animationen sowie die teils karge Gestaltung abseits der Naturzone trugen zu dieser Wahrnehmung bei. Das oft zitierte „Baum-Gate”, bei dem ein detailarmes Baummodell in der Naturzone viral ging, symbolisierte für viele die mangelnde Liebe zum Detail, die sie von einem Pokémon-Spiel auf der Switch erwartet hätten.
Der Release: Zwischen Verkaufserfolg und anhaltender Kritik
Trotz der massiven Negativität im Vorfeld waren die Verkaufszahlen von Pokémon Schwert & Schild phänomenal. Das Spiel brach Rekorde und wurde zu einem der sich am schnellsten verkaufenden Titel auf der Switch. Dies zeigte, dass der Pokémon-Hype auch durch Kontroversen nicht vollständig gebrochen werden konnte, und dass die Anziehungskraft der Marke, insbesondere für jüngere und Gelegenheitsspieler, ungebrochen war.
Das Gameplay-Erlebnis in Galar: Licht und Schatten
Nach dem Release konnten Spieler endlich selbst beurteilen, was Game Freak abgeliefert hatte. Und hier zeigte sich ein gemischtes Bild:
- Die Naturzone (Wild Area): Dieses Feature war zweifellos ein Highlight. Die große, offene Fläche, in der Pokémon sichtbar umherwanderten, das dynamische Wetter und die mächtigen Raid-Kämpfe boten ein neues Gefühl von Freiheit und Erkundung. Viele Spieler verbrachten Stunden damit, hier neue Pokémon zu entdecken und zu trainieren. Es war ein Schritt in Richtung Open-World, den sich viele schon lange gewünscht hatten.
- Dynamax & Gigantamax: Die neue Kampfmechanik, bei der Pokémon gigantisch werden und spezielle Attacken einsetzen, war visuell beeindruckend und brachte eine neue taktische Ebene in die Kämpfe. Während einige es als eine gelungene Ergänzung empfanden, sahen andere darin eine weniger strategische Alternative zu Mega-Entwicklungen oder Z-Attacken.
- Qualität des Lebens: Features wie der Pokémon-Camp, das automatische Aufsammeln von Items und die Möglichkeit, Boxen überall zu verwalten, wurden von vielen als willkommene Vereinfachungen des Spielerlebnisses gelobt.
- Charaktere und Geschichte: Die Charaktere, insbesondere der energische Rivale Hop und der ungeschlagene Champ Delion, wurden von vielen gemocht. Die Geschichte selbst wurde jedoch oft als zu linear und nicht tiefgründig genug kritisiert, insbesondere im Vergleich zu früheren Pokémon-Titeln.
Auf der Kehrseite blieben die Kritikpunkte bestehen:
- Linearität: Abseits der Naturzone wurde das Spiel als sehr linear empfunden, mit wenig Raum für Erkundung und Abzweigungen.
- Schwierigkeitsgrad: Viele Veteranen empfanden das Spiel als zu einfach, da der EP-Teiler von Anfang an aktiviert war und nicht deaktiviert werden konnte, was das Training beschleunigte und die Notwendigkeit des Grinding reduzierte.
- Post-Game-Inhalt: Der Inhalt nach der Hauptstory wurde als eher dünn empfunden, was die Langzeitmotivation für einige minderte.
- Technische Leistung: Insbesondere in der Naturzone kam es zu Framerate-Einbrüchen, was die technische Umsetzung weiter in Frage stellte.
Die Rolle der DLCs: Rettung oder weiteres Ärgernis?
Ein Novum in der Hauptreihe waren die kostenpflichtigen Erweiterungspässe: Die Insel der Rüstung und Die Schneelande der Krone. Diese DLCs brachten neue Gebiete, neue Storylines und vor allem eine beträchtliche Anzahl an zuvor fehlenden Pokémon zurück, die nicht im Basisspiel enthalten waren. Für viele war dies ein Versuch, den Dexit-Schaden zu beheben, wenn auch gegen zusätzlichen Aufpreis.
Die DLCs wurden im Allgemeinen positiver aufgenommen als das Basisspiel. Sie boten mehr Erkundungsfreiheit, interessante Legendäre Pokémon-Jagden und neue Gameplay-Mechaniken wie die Dynamax-Abenteuer. Die Rückkehr beliebter Pokémon wurde begrüßt, milderte jedoch nicht die ursprüngliche Enttäuschung, dass diese Pokémon überhaupt erst entfernt worden waren und nun extra bezahlt werden mussten. Die Erweiterungen verbesserten zweifellos das Gesamtpaket von Pokémon Schwert & Schild, aber für viele war es ein bitterer Beigeschmack, ein „unvollständiges” Spiel kaufen zu müssen, um dann für die Vervollständigung extra zu zahlen.
Die Spaltung der Community: Wer mag es, wer nicht?
Die Reaktionen auf Pokémon Schwert & Schild sind ein klares Beispiel für die Spaltung der Pokémon-Community. Es gibt nicht die eine Meinung, sondern ein breites Spektrum, das oft von der Spielerfahrung, den Erwartungen und der Bindung zur Franchise abhängt.
- Neue Spieler und Gelegenheitsspieler: Für viele, die neu in die Serie einstiegen oder nur gelegentlich spielten, bot Pokémon Schwert & Schild ein zugängliches und unterhaltsames Erlebnis. Sie waren weniger von den Dexit-Kontroversen betroffen und genossen die frischen Mechaniken und die neue Region.
- Veteranen und Core-Fans: Hier war die Enttäuschung am größten. Viele fühlten sich von Game Freak nicht ernst genommen. Sie vermissten die Komplexität und den Tiefgang älterer Titel, die Vielfalt des National-Dex und die technische Brillanz, die sie von einer modernen Konsole erwarteten. Für sie war das Spiel ein Symbol für die Stagnation und den mangelnden Fortschritt der Serie, die sich zu sehr auf den Massenmarkt konzentriere.
Diese Spaltung führte zu hitzigen Debatten in Foren, sozialen Medien und auf YouTube, wobei beide Seiten oft mit starken Argumenten und Emotionen ihre Positionen verteidigten.
Langfristige Betrachtung und Vermächtnis
Einige Jahre nach dem Release haben sich die Wogen etwas geglättet, aber die Meinungen bleiben geteilt. Pokémon Schwert & Schild hat gezeigt, dass die Pokémon-Marke trotz Kritik weiterhin unglaublich stark ist und massive Verkaufszahlen generieren kann. Es hat auch den Weg für zukünftige Innovationen geebnet, wie man sie in Pokémon-Legenden: Arceus und Pokémon Karmesin & Purpur sehen konnte, die Elemente der offenen Welt und der Pokémon-Interaktion weiterentwickelten, die in der Naturzone ihren Ursprung hatten.
Gleichzeitig bleibt Schwert & Schild ein Mahnmal für die Herausforderungen, mit denen Game Freak konfrontiert ist: Die Balance zwischen Innovation und Tradition, zwischen der Bedienung einer riesigen, vielfältigen Fanbasis und der Notwendigkeit, ein Spiel in einem immer enger werdenden Entwicklungszeitraum zu liefern. Die „Dexit”-Kontroverse hallt bis heute nach und hat die Erwartungen an zukünftige Titel nachhaltig geprägt.
Fazit: Ein komplexes Erbe
Um die Frage „Hype oder Enttäuschung” abschließend zu beantworten: Pokémon Schwert & Schild ist beides – und keines von beidem im Reinzustand. Es war ein Spiel, das immense Vorfreude weckte, die jedoch durch kontroverse Entscheidungen im Vorfeld und eine als unzureichend empfundene technische Umsetzung getrübt wurde. Es war ein kommerzieller Erfolg, der zeigte, wie mächtig die Marke Pokémon ist, aber auch eine Quelle tiefer Frustration für einen Großteil der langjährigen Pokémon-Community.
Die Spiele boten einige innovative und unterhaltsame Elemente, wie die Naturzone und die neuen Pokémon-Designs, aber sie scheiterten für viele daran, das volle Potenzial der Nintendo Switch auszuschöpfen und die hohen Erwartungen an ein „Next-Gen”-Pokémon zu erfüllen. Pokémon Schwert & Schild ist ein Game, das polarisiert, dessen Vermächtnis in der Community weiterhin heftig diskutiert wird und das die Evolution der Pokémon-Serie auf eine Art und Weise geprägt hat, die noch lange spürbar sein wird.