Seit seiner Veröffentlichung im Oktober 2018 hat Red Dead Redemption 2 (RDR2) von Rockstar Games die Gaming-Welt gespalten. Für viele ist es ein unbestreitbares Meisterwerk, ein Meilenstein der Videospielkunst, der die Grenzen dessen, was ein interaktives Medium erreichen kann, neu definiert. Andere wiederum halten es für überbewertet, ein beeindruckendes technisches Spektakel, das jedoch unter einem langsamen Pacing, schwerfälliger Steuerung und zu viel Realismus leidet. Die zentrale Frage bleibt: Ist RDR2 wirklich eines der besten Spiele der Welt oder hat der Hype eine rosarote Brille aufgesetzt?
Tauchen wir ein in die staubige, raue Welt des Wilden Westens und beleuchten wir die Argumente beider Seiten, um zu einer fundierten Einschätzung zu gelangen.
Die Argumente für ein Meisterwerk: Eine Ode an den Wilden Westen
Eine Welt, die lebt und atmet
Der erste und vielleicht auffälligste Punkt, der für RDR2 als Meisterwerk spricht, ist seine schiere, atemberaubende Open World. Die Detailverliebtheit, mit der Rockstar die Vereinigten Staaten des Jahres 1899 erschaffen hat, ist beispiellos. Von den schneebedeckten Gipfeln der Grizzlies über die staubigen Ebenen der Heartland Overflow bis hin zu den Sümpfen Lemoynes und den pulsierenden Straßen Saint Denis’ – jede Region fühlt sich einzigartig an und erzählt ihre eigene Geschichte. Wildtiere verhalten sich realistisch, Pflanzen wachsen und sterben, NPCs haben Routinen, sprechen miteinander und reagieren auf den Spieler. Das Wettersystem ist dynamisch und beeinflusst nicht nur die Optik, sondern auch das Gameplay, indem es Spuren im Schlamm hinterlässt oder die Sicht beeinträchtigt.
Diese immense Liebe zum Detail schafft eine unvergleichliche Immersion. Man hat das Gefühl, tatsächlich in dieser Welt zu existieren, anstatt nur durch sie hindurchzulaufen. Stunden können vergehen, während man einfach nur die Umgebung erkundet, jagt, fischt oder einem zufälligen Ereignis begegnet, ohne dass man das Gefühl hat, „nichts getan” zu haben. Die Grafik war und ist auch heute noch auf vielen Plattformen Referenzklasse.
Die Geschichte von Arthur Morgan: Eine Reise der Redemption
Im Kern von Red Dead Redemption 2 steht eine der wohl besten Geschichten und Charakterentwicklungen, die je in einem Videospiel erzählt wurden. Wir schlüpfen in die Rolle von Arthur Morgan, einem Outlaw und loyalen Mitglied der Van der Linde Bande. Im Gegensatz zu John Marston im ersten Teil ist Arthur nicht der Archetyp des strahlenden Helden, sondern ein komplexer, zerrissener Mann, dessen Loyalität zu seiner „Familie” zunehmend mit seinem moralischen Kompass kollidiert. Die Geschichte ist eine tragische Abhandlung über das Ende einer Ära – des Wilden Westens – und gleichzeitig eine tiefgründige Exploration von Themen wie Loyalität, Verrat, Verlust, Familie und eben Erlösung (Redemption).
Arthurs Reise ist zutiefst emotional und persönlich. Rockstar nimmt sich die Zeit, seine Beziehungen zu den anderen Bandenmitgliedern – insbesondere zu dem charismatischen, aber zunehmend paranoiden Anführer Dutch van der Linde – aufzubauen und zu vertiefen. Die Dialoge sind exzellent geschrieben und gesprochen, die Zwischensequenzen von filmischer Qualität. Man wird Zeuge, wie sich die Bande unter dem Druck der Zivilisation und innerer Konflikte langsam auflöst, und erlebt Arthurs Kampf um seine eigene Seele. Dieses narrative Gewicht und die Tiefe der Charaktere sind es, die RDR2 für viele zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.
Gameplay-Mechaniken und die Liebe zum Realismus
Abseits der beeindruckenden Optik und Story bietet RDR2 eine Fülle von Gameplay-Mechaniken, die ebenfalls zur Immersion beitragen. Das Jagen und Fischen ist ausgeklügelt, erfordert Geduld und Wissen über die Tierwelt und die richtige Ausrüstung. Das Lagerleben spielt eine zentrale Rolle; man muss Ressourcen sammeln, um die Bande zu versorgen und Moral aufrechtzuerhalten. Das Ehrensystem beeinflusst, wie NPCs auf Arthur reagieren und welche Möglichkeiten sich ihm eröffnen. Jede Interaktion, sei es ein freundliches „Hallo” oder ein bedrohliches Aufmerksamkeitserregen, fühlt sich bedeutsam an.
Die Waffenhandhabung ist realistisch und befriedigend, mit detaillierten Nachladeanimationen und dem Bedürfnis, die Waffen zu reinigen, damit sie nicht an Effizienz verlieren. Die Pferde sind mehr als nur Transportmittel; sie sind Begleiter, die man pflegen und trainieren muss, und deren Bindungslevel sich auf ihre Leistung auswirkt. All diese Elemente tragen zu einem Gefühl von Authentizität bei, das in modernen Spielen selten ist.
Sounddesign und Soundtrack: Die Seele des Westens
Ein oft unterschätztes, aber entscheidendes Element, das RDR2 zu einem Meisterwerk macht, ist sein Sounddesign und der Soundtrack. Das Knistern des Lagerfeuers, das Heulen des Windes, das ferne Bellen eines Kojoten, die authentischen Geräusche von Waffen und Schritten – all das trägt maßgeblich zur Atmosphäre bei. Die Dialoge sind brillant vertont. Der Soundtrack von Woody Jackson, ergänzt durch lizenzierte Stücke, die zu Schlüsselmomenten der Geschichte erklingen, ist schlichtweg phänomenal. Er verstärkt Emotionen, treibt die Handlung voran und untermalt die epischen Weiten des Westens auf eine Weise, die unter die Haut geht. Songs wie „May I? Stand Unshaken” oder „That’s The Way It Is” sind untrennbar mit den emotionalsten Momenten des Spiels verbunden und haben einen festen Platz in der Gaming-Geschichte.
Die Gegenstimme: Ist RDR2 überbewertet?
Trotz all dieser Lobeshymnen gibt es berechtigte Kritikpunkte, die dazu führen, dass RDR2 für einige Spieler eben nicht das Nonplusultra ist.
Das Pacing: Eine Geduldsprobe für manche
Einer der am häufigsten genannten Kritikpunkte ist das Pacing, insbesondere zu Beginn des Spiels. RDR2 ist ein bewusst langsam erzähltes Spiel. Der Prolog in den verschneiten Bergen ist langwierig und dient dazu, die Spieler in die Welt einzuführen und die grundlegenden Mechaniken zu vermitteln. Viele empfinden dies als zu schleppend, als ob das Spiel zu viel Zeit braucht, um in Fahrt zu kommen. Auch später im Spiel gibt es viele Momente, in denen die Geschichte durch lange Reitwege oder detailreiche, aber wenig interaktive Szenen gedehnt wird. Während dies für die Immersion und den Aufbau der Charaktere entscheidend ist, kann es für Spieler, die eine schnellere Action und direktere Belohnungen erwarten, frustrierend sein.
Realismus versus Spielspaß: Eine Gratwanderung
Die bewundernswerte Detailverliebtheit von Rockstar führt auch zu Mechaniken, die nicht jedem gefallen. Das langwierige Looten von Leichen, die Notwendigkeit, Waffen regelmäßig zu reinigen, die langsamen und oft umständlichen Animationen für fast jede Aktion (wie das Häuten von Tieren oder das Öffnen von Schubladen) können den Spielfluss bremsen. Für einige Spieler überschreitet der „Realismus” hier die Grenze zum „mühsamen Micromanagement” und nimmt dem Spiel den gewissen „Flow”, den andere Titel besser bieten. Manchmal fühlt es sich an, als würde das Spiel den Spieler absichtlich verlangsamen.
Die Steuerung: Präzision versus Authentizität
Ein weiterer häufiger Kritikpunkt ist die Steuerung von Arthur. Sie wird oft als schwerfällig, unpräzise und etwas „schwammig” beschrieben, besonders in engen Räumen oder bei schneller Action. Arthurs Bewegungen haben ein gewisses Gewicht, was zwar zum Realismus des Charakters passt, aber in stressigen Situationen, insbesondere im Kampf oder bei der Interaktion mit Objekten, zu Frustration führen kann. Auch die Deckungsmechanik und das Zielen sind nicht immer so flüssig und intuitiv wie in anderen modernen Shootern.
Linearität in Open-World-Missionen
Obwohl RDR2 eine riesige, offene Welt bietet, sind viele Story-Missionen erstaunlich linear und restriktiv. Das Spiel bestraft oft Experimente oder Abweichungen von der vorgegebenen Route mit Missionsfehlern. Dies steht im Widerspruch zum Gefühl der Freiheit, das die Open World vermittelt, und kann dazu führen, dass sich der Spieler in wichtigen Handlungssträngen gegängelt fühlt.
Red Dead Online: Eine verpasste Chance?
Der Online-Modus, Red Dead Online, wurde bei seiner Veröffentlichung oft als dürftig empfunden und konnte nie das Ausmaß oder die Popularität von Grand Theft Auto Online erreichen. Viele Spieler hatten sich mehr Freiheit, mehr Rollenspiel-Elemente und eine lebendigere Welt erhofft. Auch wenn Rockstar im Laufe der Jahre Verbesserungen vorgenommen hat, wird RDO oft als eine verpasste Chance oder zumindest als ein weniger beeindruckender Teil des Gesamtpakets angesehen.
Ist Red Dead Redemption 2 das beste Spiel der Welt?
Nachdem wir die Argumente für und gegen RDR2 beleuchtet haben, kommen wir zur Kernfrage: Ist es das beste Spiel der Welt? Die Antwort darauf ist, wie bei jeder Kunstform, letztlich subjektiv. Was für den einen das Nonplusultra darstellt, kann für den anderen „nur” ein sehr gutes Spiel sein.
Nichtsdestotrotz gibt es objektive Kriterien, anhand derer wir RDR2 in den Kontext der Gaming-Geschichte einordnen können. Technisch ist es eine Meisterleistung. Die Grafik, die schiere Größe und Detailtiefe der Welt, die Animationen und das Sounddesign sind in der Regel über jeden Zweifel erhaben und setzen Maßstäbe. Narrativ bietet es eine der tiefgründigsten und emotional packendsten Geschichten, die je in einem Videospiel erzählt wurden, mit einem unvergesslichen Protagonisten.
Im Vergleich zu anderen Anwärtern auf den Thron wie „The Witcher 3: Wild Hunt”, „The Legend of Zelda: Breath of the Wild”, „Grand Theft Auto V” oder „God of War” behauptet sich RDR2 souverän. Jedes dieser Spiele hat seine eigenen Stärken und definiert Exzellenz auf unterschiedliche Weise. „The Witcher 3” punktet mit seiner Fantasy-Welt und seinen Quest-Strukturen, „Zelda” mit seiner einzigartigen spielerischen Freiheit und Innovation. RDR2 zeichnet sich jedoch durch seine unerreichte atmosphärische Dichte, seinen Fokus auf Charakterentwicklung und eine fast schon obsessive Liebe zum Detail aus, die eine Welt schafft, in der man sich wirklich verlieren kann.
Es ist ein Spiel, das seine Zeit vom Spieler fordert, das nicht immer bequem ist und das seine Spieler nicht an der Hand führt. Aber genau in dieser Unbequemlichkeit, in dieser Weigerung, Kompromisse zugunsten von sofortiger Befriedigung einzugehen, liegt seine Stärke. Es ist ein Spiel, das nachhallt, das lange nach dem Abspann in Erinnerung bleibt und das Emotionen weckt, die in der Spielebranche selten sind.
Fazit: Ein Meisterwerk mit Ecken und Kanten
Letztendlich lässt sich festhalten: Red Dead Redemption 2 ist nicht perfekt. Seine Schwächen in Bezug auf Pacing, Steuerung und bestimmte Realismus-Mechaniken sind vorhanden und können das Spielerlebnis für einige trüben. Doch diese Makel verblassen im Angesicht seiner monumentalen Leistungen.
Die epische Geschichte von Arthur Morgan, die lebendige und atemberaubend schöne Open World, das unvergleichliche Sounddesign und der tiefe emotionale Impact machen RDR2 zu einem einzigartigen und bahnbrechenden Erlebnis. Es ist ein Spiel, das die Grenzen des Storytellings in interaktiven Medien verschiebt, das Standards für Immersion setzt und das in seiner künstlerischen Ambition seinesgleichen sucht.
Ob es das „beste Spiel der Welt” ist, mag eine persönliche Entscheidung bleiben. Aber es ist zweifellos ein Meisterwerk, das seinen Platz in den Annalen der Videospielgeschichte sicher hat. Es ist ein Spiel, das man erlebt haben muss, um die volle Bandbreite seiner Qualitäten und seinen Einfluss auf das Medium zu verstehen. Rockstar Games hat mit RDR2 ein Vermächtnis geschaffen, das noch lange nachklingen wird – ein Western-Epos, das seinesgleichen sucht.