In der riesigen Landschaft der Rollenspiele gibt es Titel, die sofort in den Pantheon der Klassiker aufsteigen, und andere, die im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Dann gibt es Spiele wie The Last Remnant – ein einzigartiges JRPG von Square Enix, das bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2008 polarisierte und seitdem zu einem wahren Kultklassiker unter Liebhabern komplexer Systeme herangereift ist. Ursprünglich auf der Xbox 360 und später auf dem PC veröffentlicht, fand es seinen Weg zurück ins Rampenlicht mit einer Remaster-Version für moderne Konsolen und den PC. Aber wie steht es um dieses „vergessene Juwel” heute? Lohnt es sich, in die tiefen und oft undurchsichtigen Mechaniken von The Last Remnant einzutauchen?
Ein Blick zurück: Was ist The Last Remnant?
The Last Remnant entführt uns in eine Fantasiewelt, die von mysteriösen Artefakten, den sogenannten „Remnants”, geformt wird. Diese Remnants verleihen ihren Trägern immense Macht, sind aber auch der Ursprung von Konflikten und Kriegen. Wir folgen der Geschichte von Rush Sykes, einem unbedarften jungen Mann, dessen friedliches Leben jäh zerstört wird, als seine Schwester Irina von einer mysteriösen Organisation entführt wird. Auf seiner Suche nach ihr gerät Rush in einen epischen Konflikt, der die gesamte Welt in Atem hält und die Geheimnisse der Remnants lüftet. Die Erzählung ist tiefgründig und oft melancholisch, mit einer bemerkenswerten Welt, die sich durch ihre einzigartigen Rassen – darunter die reptilienartigen Yamas, die froschähnlichen Qsitis und die riesigen Sovanis – und ihre reiche Geschichte auszeichnet.
Das Kampfsystem: Ein Meisterwerk der Komplexität oder reine Frustration?
Hier liegt der Kern der Kontroverse und gleichzeitig die Brillanz von The Last Remnant: sein einzigartiges Kampfsystem. Vergiss traditionelle JRPG-Kämpfe, in denen du jeden Charakter einzeln steuerst. In The Last Remnant führst du „Unions” an – Gruppen von bis zu fünf Charakteren, die als eine Einheit agieren. Du befiehlst nicht einzelnen Mitgliedern, sondern der Union als Ganzes. Die strategische Tiefe entsteht durch:
- Unions und Formationen: Du stellst deine Unions zusammen, wählst ihre Formationen (die ihre Werte und Verteidigungsstrategien beeinflussen) und weist ihnen Befehle zu. Die Positionierung der Unions auf dem Schlachtfeld ist entscheidend, um Gegner einzukesseln oder deine Flanken zu schützen.
- Das Moral-System: Dies ist das vielleicht wichtigste Element. Die „Moral” der Unions – sowohl deiner als auch der Gegner – schwankt ständig. Eine hohe Moral erhöht deinen Schaden und deine Verteidigung und schaltet mächtige „Ruf”-Befehle frei, während eine niedrige Moral das Gegenteil bewirkt. Das Manipulieren der Moral des Gegners ist der Schlüssel zum Sieg.
- Indirekte Befehle: Anstatt präzise Angriffe zu wählen, gibst du deiner Union allgemeine Anweisungen wie „Greife mit physischen Angriffen an” oder „Heile alle Unions”. Die Charaktere innerhalb der Union wählen dann basierend auf ihren Fähigkeiten und der Situation die besten Aktionen. Das kann manchmal frustrierend sein, da du nicht immer die volle Kontrolle hast, aber es zwingt dich auch dazu, vorausschauend zu denken und deine Unions optimal zusammenzustellen.
- Overdrive und Special Arts: Mächtige Angriffe und Heilfähigkeiten, die sich im Laufe des Kampfes aufladen und das Blatt wenden können. Das Timing ihres Einsatzes ist entscheidend.
Das Kampfsystem erfordert Einarbeitung und Geduld. Es gibt eine steile Lernkurve, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem der strategisch anspruchsvollsten und lohnendsten JRPG-Kampfsysteme belohnt.
Charakter- und Fortschrittssystem: Anders als alles andere
Auch hier bricht The Last Remnant mit Konventionen. Es gibt kein traditionelles Level-System:
- Battle Rank (BR): Stattdessen gibt es den BR, der im Wesentlichen die Stärke der Gegner skaliert. Der BR steigt mit der Anzahl der Kämpfe, die du bestreitest. Hier liegt eine weitere Falle: Wer zu viel „grindet”, ohne seine Charaktere und Ausrüstung zu verbessern, findet sich schnell in einer ausweglosen Situation wieder, da die Gegner zu stark werden. Es ist ein System, das dich dazu ermutigt, effizient zu kämpfen und nur notwendige Kämpfe zu bestreiten.
- Skill-Entwicklung: Charaktere verbessern ihre Fertigkeiten (Waffen-Skills, Magie, Heilfähigkeiten) durch den Gebrauch. Je öfter sie eine bestimmte Art von Attacke oder Magie einsetzen, desto mächtiger wird sie.
- Ausrüstung und Upgrades: Du findest Materialien von besiegten Gegnern oder in der Welt, die du in Städten verwenden kannst, um neue Waffen und Rüstungen herzustellen oder bestehende zu verbessern. Dies ist ein entscheidender Teil des Fortschritts.
- Anwerbung von Anführern: Neben Rush und seinen festen Begleitern kannst du Dutzende weiterer Anführer anwerben, die jeweils ihre eigenen Fähigkeiten, Persönlichkeiten und oft auch Nebenquests mitbringen. Die Auswahl und Zusammenstellung deiner Anführer ist ein zentraler strategischer Aspekt.
Dieses System zwingt dich dazu, deine Strategie ständig anzupassen und sorgfältig zu überlegen, wie du deine Charaktere entwickeln möchtest. Es belohnt Experimentierfreude und eine tiefe Auseinandersetzung mit den Mechaniken.
Story, Welt und Charaktere: Ein unterschätztes Epos
Abseits der Mechaniken bietet The Last Remnant eine faszinierende Geschichte und eine detaillierte Welt. Die zentrale Prämisse der Remnants und ihrer Rolle in der Geschichte ist gut ausgearbeitet. Die Charaktere, obwohl anfangs vielleicht etwas stereotypisch, entwickeln sich im Laufe der Handlung weiter und gewinnen an Tiefe. Die Nebencharaktere, die du anwerben kannst, sind oft interessanter und facettenreicher als die Hauptbesetzung in manch anderem JRPG.
Die Welt ist visuell beeindruckend und abwechslungsreich, von den grünen Ebenen von Athlum bis zu den sandigen Wüsten von Numor. Die verschiedenen Städte und Dungeons sind einzigartig gestaltet und tragen zur Immersion bei. Das Worldbuilding ist definitiv eine Stärke des Spiels, mit einer umfangreichen Lore, die in den Beschreibungen der Remnants und in Dialogen verborgen liegt.
Die Optik und der Sound: Vom Problemkind zum Hingucker
Bei der Erstveröffentlichung auf der Xbox 360 hatte The Last Remnant erhebliche technische Probleme: Pop-ins von Texturen, Ruckeln und eine oft matschige Optik trübten das Spielerlebnis. Die PC-Version verbesserte vieles, aber erst das Remaster hat dem Spiel die technische Politur verliehen, die es verdient. Das Remaster bietet:
- Verbesserte Grafik: Höhere Auflösung, schärfere Texturen, bessere Lichteffekte und überarbeitete Charaktermodelle lassen das Spiel deutlich besser aussehen.
- Stabile Performance: Das Spiel läuft nun flüssig und stabil, was besonders bei den großen und effektreichen Kämpfen ein Genuss ist.
- Qualitative Soundtrack: Der Soundtrack, komponiert von Tsuneshi Shirakawa, ist ein absolutes Highlight. Epische Orchestermusik mischt sich mit treibenden Rock-Elementen und passt perfekt zur Stimmung des Spiels. Er ist auch heute noch herausragend und trägt maßgeblich zur Atmosphäre bei.
Warum es „vergessen” wurde: Die anfänglichen Hürden
The Last Remnant hatte bei seiner Veröffentlichung mit einigen Problemen zu kämpfen, die seinen Ruf beeinträchtigten und dazu führten, dass es von vielen Spielern übersehen wurde:
- Technische Mängel: Vor allem die Xbox 360-Version litt unter erheblichen technischen Problemen, die das Spielerlebnis trübten.
- Komplexität und mangelnde Erklärungen: Das Spiel erklärt seine einzigartigen Mechaniken nicht immer ausreichend. Viele Spieler waren überfordert oder frustriert von dem ungewöhnlichen Kampfsystem und dem BR-System, das bei falschem Verständnis schnell zu unüberwindbaren Schwierigkeiten führen konnte.
- Indirekte Steuerung: Die Abwesenheit direkter Kontrolle über einzelne Charaktere stieß viele JRPG-Fans vor den Kopf, die an traditionelle Systeme gewöhnt waren.
- Schwierigkeitsgrad: Das Spiel ist herausfordernd, und Fehler in der Charakterentwicklung oder Union-Zusammenstellung können schnell bestraft werden.
Lohnt sich The Last Remnant heute noch für dich?
Die Frage, ob sich The Last Remnant heute noch lohnt, hängt stark von deinen Präferenzen ab:
Du wirst es lieben, wenn:
- Du nach einem einzigartigen JRPG suchst: Wenn du genug von Einheitsbrei hast und bereit bist, dich auf etwas völlig Neues einzulassen, ist The Last Remnant ein echtes Erlebnis.
- Du strategische Tiefe schätzt: Das Kampfsystem ist komplex und erfordert strategisches Denken, Union-Optimierung und das Verständnis der Moral-Mechanik. Wenn du gerne Systeme meisterst und Knobelaufgaben im Kampf magst, wirst du hier voll auf deine Kosten kommen.
- Du Geduld und Lernbereitschaft mitbringst: Die steile Lernkurve ist eine Hürde, aber die Belohnung ist ein zutiefst befriedigendes Spielerlebnis. Lies dir am besten Guides zum Kampfsystem und dem BR-System durch, bevor du startest.
- Du eine fesselnde Geschichte und ein tiefes Worldbuilding magst: Die Lore und die Charaktere sind gut ausgearbeitet und bieten viele Stunden Unterhaltung.
- Du eine gute technische Umsetzung schätzt: Die Remaster-Version hat alle technischen Mängel der ursprünglichen Konsolenversion behoben und präsentiert das Spiel in seiner besten Form.
Du wirst es wahrscheinlich nicht mögen, wenn:
- Du direkte Kontrolle über deine Charaktere bevorzugst: Das indirekte Befehlssystem kann frustrierend sein, wenn du gewohnt bist, jede Aktion genau zu steuern.
- Du ein schnelles und unkompliziertes JRPG suchst: The Last Remnant ist alles andere als das. Es erfordert Zeit, Engagement und eine Bereitschaft, die Mechaniken zu lernen.
- Du frustresistent bist: Wenn du leicht die Geduld verlierst, wenn du scheiterst und nicht sofort weißt, warum, könnte The Last Remnant eine Herausforderung sein.
- Du ein Fan von traditionellen Level-Systemen bist: Das BR-System ist gewöhnungsbedürftig und kann bei Unkenntnis zu Frust führen.
Fazit: Ein unterschätztes Meisterwerk für die richtigen Spieler
The Last Remnant Remastered ist weit mehr als nur ein aufpoliertes Spiel; es ist die ultimative Version eines zutiefst missverstandenen, aber brillant konzipierten JRPG. Es ist ein Spiel, das absichtlich gegen den Strich bürstet und Konventionen herausfordert, um ein einzigartiges Spielerlebnis zu schaffen. Ja, es ist anspruchsvoll, ja, es hat eine steile Lernkurve, und ja, es ist nicht für jeden geeignet. Aber für diejenigen, die bereit sind, sich auf seine Eigenheiten einzulassen, bietet The Last Remnant eine unvergleichliche strategische Tiefe, eine fesselnde Geschichte und eine reiche Welt, die in Erinnerung bleibt. Es ist ein wahres JRPG-Juwel, das es verdient hat, heute (neu) entdeckt zu werden, besonders in seiner verbesserten Remaster-Form. Wenn du nach einem frischen Wind im JRPG-Genre suchst und keine Angst vor Komplexität hast, dann gib The Last Remnant eine Chance – du könntest eines deiner neuen Lieblingsspiele finden.