Die NBA ist eine Liga der Superlative, in der Legenden geboren und unvergessliche Saisons gespielt werden. Doch selten hat eine Debatte so viel Leidenschaft entfacht wie der Vergleich zwischen zwei der ikonischsten Point Guards ihrer Generation: Russell Westbrook und Stephen Curry. Beide Spieler haben in den 2010er Jahren die Liga maßgeblich geprägt und je eine MVP-Trophäe in die Höhe gestemmt, die für immer in den Geschichtsbüchern verankert bleiben wird. Aber war Russell Westbrooks sagenumwobene MVP-Saison 20116/17, in der er das Unglaubliche vollbrachte und im Schnitt ein Triple-Double auflegte, tatsächlich „überragender“ als jede von Stephen Currys bahnbrechenden MVP-Saisons?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir tief in die Statistiken, den Kontext, die Narrative und den Einfluss beider Spieler eintauchen. Es ist ein Kampf zwischen roher, ungebändigter individueller Dominanz und eleganter, effizienter Team-Exzellenz, die die Spielweise einer ganzen Liga revolutionierte.
Russell Westbrooks historische Solo-Show (2016-17)
Stellen Sie sich vor: Die Saison 2016/17. Kevin Durant, Westbrooks langjähriger Teampartner und Superstar, hat die Oklahoma City Thunder verlassen, um sich den Golden State Warriors anzuschließen. Die allgemeine Erwartung an OKC war gering. Doch aus der Asche des Abschieds erhob sich ein Spieler mit einer Wut und Entschlossenheit, die Basketballfans noch nie zuvor in dieser Form gesehen hatten. Russell Westbrook übernahm die Rolle des alleinigen Anführers und schrieb Geschichte.
In dieser Saison legte Westbrook unglaubliche 31,6 Punkte, 10,7 Rebounds und 10,4 Assists pro Spiel auf. Er war der erste Spieler seit Oscar Robertson in der Saison 1961/62, der eine gesamte Spielzeit mit einem Triple-Double-Schnitt beendete – eine Leistung, die von vielen als unerreichbar galt. Mit 42 Triple-Doubles in einer einzigen Saison brach er zudem Robertsons Rekord. Die Thunder, die nach Durants Abgang von vielen abgeschrieben wurden, führten Westbrook mit einem Record von 47-35 auf den sechsten Platz in der Western Conference und somit in die Playoffs.
Die Narrative war klar: Westbrook trug sein Team auf den Schultern, Abend für Abend. Er spielte mit einer Intensität, die beinahe schon beängstigend war, seine Drives zum Korb waren unaufhaltsam, seine Rebounds unglaublich für einen Guard und seine Pässe präzise. Er war die Offensive, die Defensive und die emotionale Triebfeder des Teams. Es war eine Leistung der reinen individuellen Dominanz und ein heroischer Kampf gegen alle Erwartungen.
Doch es gab auch Kritik. Seine Effizienz war nicht immer optimal (Field Goal Percentage von 42,5 %, 3-Punkt-Quote von 34,3 %). Zudem wurde ihm gelegentlich vorgeworfen, seine Statistiken, insbesondere die Rebounds, durch Absprachen mit seinen Teamkollegen zu „forcieren”, um die Triple-Double-Marke zu erreichen. Ungeachtet dessen war seine Saison ein statistisches Wunderwerk und ein Zeugnis seines unerbittlichen Willens.
Stephen Currys revolutionäre MVP-Saisons (2014-15 und 2015-16)
Stephen Curry hat nicht nur eine, sondern zwei MVP-Saisons abgeliefert, die beide auf ihre Art außergewöhnlich waren. Seine bahnbrechende Spielweise revolutionierte das Spiel und zeigte, wie eine Offensive durch präzises Schießen und unglaubliche Bewegung ohne Ball dominiert werden kann.
Die erste MVP-Saison (2014-15)
In der Saison 2014/15 führte Curry die Golden State Warriors zu einer Bilanz von 67-15, der besten der Liga, und später zu ihrer ersten Meisterschaft seit 40 Jahren. Er legte durchschnittlich 23,8 Punkte, 7,7 Assists und 2,0 Steals auf, alles bei beeindruckender Effizienz (48,7 % FG, 44,3 % 3FG). Curry war die Speerspitze einer neuen Ära des Basketballs, die auf schnellem Passspiel, Bewegung und vor allem – dem Dreier – basierte. Seine Fähigkeit, aus jeder Entfernung zu treffen, öffnete das Spielfeld für seine Teamkollegen und machte die Warriors zu einer nahezu unaufhaltsamen Offensivmaschine.
Die einstimmige MVP-Saison (2015-16)
Doch es war die Saison 2015/16, die Stephen Curry endgültig in den Olymp der Basketball-Legenden katapultierte. In dieser Spielzeit vollbrachte er etwas, das in der NBA-Geschichte einzigartig ist: Er wurde der erste und bis heute einzige einstimmige MVP. Die Warriors brachen den Rekord für die beste Regular-Season-Bilanz mit 73-9 Siegen und übertrafen damit Michael Jordans Chicago Bulls aus der Saison 1995/96. Curry war das Herzstück dieses historischen Erfolgs.
Seine Zahlen in dieser Saison waren atemberaubend: 30,1 Punkte, 6,7 Assists, 5,4 Rebounds und 2,1 Steals. Doch es war nicht nur die schiere Punktezahl, die beeindruckte, sondern die Art und Weise, wie er sie erzielte. Curry schoss mit unfassbaren 50,4 % aus dem Feld, 45,4 % von der Dreipunktlinie und 90,8 % von der Freiwurflinie – eine seltene 50/40/90-Saison, die nur den effizientesten Schützen gelingt. Er traf unglaubliche 402 Dreier in einer Saison und brach damit seinen eigenen Rekord (damals 286). Seine True Shooting Percentage (TS%) von 66,9 % war absurd hoch und ein Zeichen seiner überragenden Effizienz.
Currys Impact auf das Spiel ging weit über seine individuellen Statistiken hinaus. Seine „Gravity”, also die Anziehungskraft, die er auf die gegnerische Defensive ausübte, war beispiellos. Schon das Überqueren der Mittellinie zwang die Verteidigung, ihn doppelt oder sogar dreifach zu decken, was Räume für seine Teamkollegen Klay Thompson, Draymond Green und andere schuf. Er veränderte die Art und Weise, wie Basketball gespielt und gedacht wurde, indem er den Dreipunktwurf zur primären Offensivwaffe erhob.
Der direkte Vergleich: Narrative vs. Effizienz, Individuum vs. Team
Der Kern der Debatte liegt in der Frage, welche Kriterien wir für „überragender” heranziehen. Betrachten wir die individuelle Leistung isoliert oder im Kontext des Teamerfolgs und der Effizienz?
Statistische Tiefe
Russell Westbrooks Saison ist ein Triumph der reinen, rauen Statistik. Ein Triple-Double-Schnitt über eine ganze Saison ist ein einmaliges, phänomenales Kunststück. Es zeigt eine Allround-Leistung, die in puncto Rebounding und Assists für einen Guard ihresgleichen sucht. Doch wenn wir tiefer in die Effizienz-Metriken eintauchen, bietet sich ein anderes Bild.
Stephen Currys 2015/16er Saison war eine Meisterklasse in Effizienz und Scoring-Explosivität. Seine True Shooting Percentage von fast 67 % übertrifft Westbrooks 55,4 % deutlich. Currys Player Efficiency Rating (PER) von 31,56 ist eines der höchsten in der NBA-Geschichte und liegt über Westbrooks 23,08. Ähnlich verhält es sich mit den Win Shares: Currys 17,9 waren ligaweit führend und deuten auf einen deutlich größeren Beitrag zum Teamerfolg hin als Westbrooks 12,6.
Teamerfolg und Kontext
Hier gibt es eine klare Trennlinie. Westbrook führte die Thunder zu einem respektablen Record und in die Playoffs, was nach Durants Abgang eine beachtliche Leistung war. Aber Curry führte die Warriors zu einem historischen 73-9 Record, der als einer der größten Teamerfolge in der Geschichte des Sports gilt. Die Warriors waren nicht nur gut; sie waren in dieser Saison eine Liga für sich, und Curry war ihr unangefochtener Anführer.
Man könnte argumentieren, dass Westbrooks Team weniger Talent besaß als Currys (die Warriors hatten mit Klay Thompson und Draymond Green zwei weitere All-Stars), was seine Leistung noch beeindruckender macht. Westbrook hatte eine höhere Usage Rate (41,7 % vs. Currys 32,6 %), was bedeutet, dass er einen unverhältnismäßig größeren Anteil der Offensivaktionen seines Teams verantwortete. Dies unterstreicht seine Rolle als Alleinunterhalter.
Einfluss auf das Spiel
Beide Spieler hatten einen immensen Einfluss, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Westbrooks Triple-Double-Saison hat die Diskussion über die Bedeutung von Rebounds und Assists für Guards neu entfacht und gezeigt, welche individuellen Höchstleistungen möglich sind, wenn ein Spieler die Freiheit und die Last einer ganzen Franchise auf sich nimmt. Er hat eine Benchmark gesetzt, die nur schwer zu erreichen ist.
Curry hingegen hat die Art und Weise, wie Basketball auf der ganzen Welt gespielt wird, nachhaltig verändert. Seine Fähigkeit, aus dem Dribbling aus großer Entfernung zu treffen, hat Jugendspieler und Profis gleichermaßen inspiriert, ihre Wurfmechanik und ihre Offensivstrategien zu überdenken. Die „Three-Point Revolution”, die er anführte, ist unübersehbar. Er hat bewiesen, dass man Dominanz nicht nur durch Athletik und Korblegern erzielt, sondern auch durch präzises Schießen und intelligente Bewegung.
Fazit: Überragend auf unterschiedliche Art
Die Frage, ob Russell Westbrooks MVP-Saison überragender war als jede von Stephen Currys, lässt sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Es hängt stark davon ab, welche Definition von „überragend” man anlegt.
- Wenn „überragender” bedeutet, eine individuell historisch einzigartige statistische Leistung zu erbringen, die alle Erwartungen sprengt und ein Team trotz Widrigkeiten in die Playoffs trägt, dann hat Russell Westbrooks Saison einen sehr starken Anspruch. Es war eine Leistung von roher Kraft, Entschlossenheit und statistischer Unsterblichkeit.
- Wenn „überragender” hingegen die Kombination aus historischem Teamerfolg, revolutionärer Effizienz, beispielloser Veränderung der Spielweise und individueller Brillanz auf höchstem Niveau meint, dann ist Stephen Currys einstimmige MVP-Saison 2015/16 kaum zu übertreffen. Seine Saison war nicht nur gut, sie war perfekt im Kontext des Teamerfolgs und der Effizienz.
Beide Spieler haben in ihren MVP-Saisons NBA-Geschichte geschrieben und Momente geschaffen, die für immer in Erinnerung bleiben werden. Westbrook lieferte eine Ein-Mann-Show, die in ihrer statistischen Rohheit ihresgleichen sucht. Curry lieferte die effizienteste und teamerfolgreichste Saison eines Offensivspielers in der modernen Ära, während er das Spiel für immer veränderte.
Vielleicht ist die schönste Antwort, dass wir uns glücklich schätzen können, Zeugen beider Epochen gewesen zu sein. Sie repräsentieren zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen faszinierende Facetten der Basketball-Exzellenz: die unbändige individuelle Willenskraft und die elegante, bahnbrechende kollektive Brillanz. Welcher Stil „überragender” ist, bleibt letztlich eine subjektive Entscheidung – eine, die die große Debatte am Leben hält.