Die Welt der Rollenspiele ist reich an epischen Geschichten, unvergesslichen Charakteren und – nicht zuletzt – innovativen Kampfsystemen. Unter den unzähligen Titeln, die über die Jahre erschienen sind, sticht die „Bravely”-Reihe von Square Enix hervor, insbesondere auf dem Nintendo 3DS. Nach dem vielgelobten „Bravely Default” folgte 2016 „Bravely Second: End Layer„, das nicht nur die fesselnde Geschichte fortsetzte, sondern auch sein einzigartiges Kampfsystem verfeinerte und erweiterte. Doch wie so oft bei Systemen, die auf Tiefgang und Komplexität setzen: Ist es eine geniale Meisterleistung der strategischen Spielmechanik oder manchmal doch etwas zu überladen? Lasst uns gemeinsam eintauchen und das Herzstück dieses faszinierenden Nintendo 3DS RPG untersuchen.
Die Geburt einer Legende: Das Brave & Default-System
Das Fundament, auf dem das gesamte Kampfsystem von Bravely Second ruht, ist das wegweisende „Brave & Default“-System, das bereits in seinem Vorgänger glänzte. Es bricht mit der traditionellen „Eine Aktion pro Runde“-Regel und führt eine Art Zeitmanagement ein, das den Spieler ständig vor taktische Entscheidungen stellt. Standardmäßig erhält jeder Charakter pro Runde einen „BP“ (Brave Point). Wenn ein Charakter „Default“ wählt, verzichtet er in dieser Runde auf seine Aktion, um einen BP anzusammeln und gleichzeitig Verteidigung zu erhöhen. Das ist der defensive, strategisch kluge Teil.
Der Clou kommt mit „Brave“: Spieler können bis zu vier Aktionen in einer einzigen Runde ausführen, indem sie bis zu vier BP ausgeben. Man kann also nicht nur angesammelte BP einsetzen, sondern auch „schulden” gehen, indem man negative BP-Werte in Kauf nimmt. Ein Charakter mit -3 BP wird in den nächsten drei Runden nicht agieren können, es sei denn, er sammelt BP durch Default oder andere Effekte wieder an. Dies führt zu einem Hochrisiko-Hochgewinn-Szenario: Soll man alle BP auf einmal verpulvern, um einen Gegner schnell zu besiegen, riskiert aber, wehrlos dazustehen? Oder spielt man defensiv, sammelt BP an und entfesselt dann eine verheerende Angriffsserie? Diese ständige Abwägung von Offensive und Defensive macht jeden Kampf, selbst gegen gewöhnliche Gegner, zu einem kleinen strategischen Puzzle.
Die Macht der Berufe: Flexibilität und Synergien
Eng verknüpft mit dem Brave & Default-System ist das umfassende Job-System, das in Bravely Second nochmals erweitert wurde. Jeder Charakter kann aus einer Vielzahl von Berufen wählen, die von klassischen wie Ritter, Magier oder Mönch bis hin zu einzigartigeren wie Katastrophenschutz, Patissier oder Geisterbeschwörer reichen. Jeder Beruf verleiht dem Charakter einzigartige Statuswerte, Ausrüstungsmöglichkeiten und – am wichtigsten – spezielle Kommando- und Unterstützungsfähigkeiten.
Der wirkliche Tiefgang entsteht dadurch, dass jeder Charakter nicht nur einen Hauptberuf (dessen Kommando-Fähigkeiten er direkt nutzen kann) haben, sondern auch einen Unterberuf zuweisen kann. Die Kommando-Fähigkeiten des Unterberufs können dann ebenfalls im Kampf genutzt werden. Hinzu kommen passive Unterstützungsfähigkeiten, die man unabhängig von Haupt- und Unterberuf ausrüsten kann, sofern man genügend Fähigkeitspunkte hat. Dies ermöglicht eine schier endlose Palette an Charakter-Builds und Synergien. Ein Schwarzmagier mit der Fähigkeit eines Weißen Magiers kann sowohl Schaden austeilen als auch heilen. Ein Mönch mit der Fähigkeit eines Ritters kann hohe physische Angriffe mit Verteidigungsboosts kombinieren. Die Experimentierfreude wird hier großgeschrieben und belohnt.
Bravely Second: Die Zeit anhalten
Namensgebend und das herausragendste Alleinstellungsmerkmal von Bravely Second ist die gleichnamige Mechanik: „Bravely Second“. Diese Fähigkeit erlaubt es dem Spieler, den Kampf mid-action anzuhalten und einen Charakter eine Super-Aktion ausführen zu lassen, die garantiert als Erste in der Runde ausgeführt wird und zusätzlich den Schaden um 150% erhöht (oder die Heilung). Der Einsatz von Bravely Second verbraucht „SP“ (Sleep Points), die man durch das Schließen des 3DS im Schlafmodus (was echtes Zeitvergehen bedeutet) oder durch den Kauf von SP-Tränken im eShop (ein umstrittenes Feature) erhält. Dies ist der einzige Punkt, der dem Spiel einen leicht „Pay-to-Win”-Geschmack verleihen könnte, obwohl SP auch durch normales Spielen über lange Zeit gesammelt werden können.
Strategisch ist Bravely Second ein absoluter Game-Changer. Es kann in kritischen Momenten eingesetzt werden, um einen tödlichen Bossangriff zu verhindern, einen angeschlagenen Heiler wiederzubeleben, den letzten Rest HP eines Gegners zu beseitigen oder eine wichtige Schwäche auszunutzen, bevor der Gegner reagieren kann. Die Fähigkeit, die Zeit anzuhalten und eine garantierte, verstärkte Aktion auszuführen, fügt eine weitere Ebene der Kontrolle und Taktik hinzu, die in den meisten anderen RPGs schlichtweg fehlt. Sie ist ein echtes „Ass im Ärmel”, das über Sieg oder Niederlage entscheiden kann.
Kettenkämpfe: Risiko und Belohnung
Eine weitere Neuerung in Bravely Second ist das System der „Kettenkämpfe“ (Consecutive Battles). Nach einem siegreichen Kampf gegen gewöhnliche Gegner hat der Spieler die Wahl, sofort in einen weiteren Kampf überzugehen, ohne sich zu bewegen oder das Menü zu öffnen. Jeder erfolgreich abgeschlossene Kettenkampf erhöht den Bonus auf Erfahrungspunkte, Jobpunkte und Geld für die gesamte Kette. Dies ist eine fantastische Methode, um schnell aufzuleveln und Job-Level zu grinden – allerdings mit einem Haken: Die Schwierigkeit der aufeinanderfolgenden Kämpfe steigt ebenfalls. Ein kleiner Fehler oder eine zu aggressive Herangehensweise kann eine ganze Kampfserie beenden und alle angesammelten Boni zunichtemachen. Dieses Feature belohnt gute Planung und Risikobereitschaft und macht das Grinding deutlich unterhaltsamer und strategischer als in vielen anderen RPGs.
Synergien und Strategien: Der Puzzle-Aspekt
Das Kampfsystem von Bravely Second ist im Kern ein riesiges Puzzle. Jede Klasse hat ihre Stärken und Schwächen, jede Fähigkeit kann auf verschiedene Weisen kombiniert werden. Ein Beispiel: Der „Zauberer”-Beruf kann elementare Zauber „modifizieren”, um sie zweimal wirken zu lassen, während der „Exorcist” die Auswirkungen von Buffs und Debuffs umkehren kann. Ein „Catmancer” kann mit erbeuteten Monstertricks verheerenden Flächenschaden anrichten, während der „Astrologe” die Party mit mächtigen elementaren Buffs versorgt. Die Aufgabe des Spielers ist es, die optimalen Kombinationen für seine Party und für spezifische Gegnertypen zu finden.
Besonders in den anspruchsvollen Bosskämpfen, bei denen Asterisk-Halter oft einzigartige Taktiken und Fähigkeiten nutzen, wird die Tiefe des Systems ersichtlich. Hier ist nicht nur rohe Kraft gefragt, sondern clevere Strategie, die Ausnutzung von Schwächen, das Management von BP und das gezielte Einsetzen von Bravely Second. Eine gut durchdachte Party-Zusammenstellung und der kluge Einsatz von Fähigkeiten können den Unterschied zwischen einem frustrierenden Scheitern und einem glorreichen Sieg ausmachen.
Genial oder Überladen? Eine kritische Betrachtung
Nun zur Kernfrage: Ist das Kampfsystem von Bravely Second genial oder überladen? Die Antwort ist, wie so oft, nuanciert und hängt stark vom Spielertyp ab.
Argumente für „Genial”:
- Strategischer Tiefgang: Das Brave & Default-System bietet eine einzigartige taktische Ebene, die zum Nachdenken anregt. Jeder Zug zählt.
- Unendliche Anpassung: Das umfangreiche Job-System mit Haupt-, Unterberufen und passiven Fähigkeiten erlaubt eine immense Vielfalt an Charakter-Builds und fördert die Experimentierfreude.
- Bravely Second als Trumpfkarte: Die Zeitstopp-Fähigkeit ist eine innovative Mechanik, die in kritischen Situationen eine echte Rettung sein kann und das Gefühl von Kontrolle und Macht vermittelt.
- Belohnung für Cleverness: Spieler, die sich die Mühe machen, Synergien zu verstehen und Schwächen auszunutzen, werden mit effizienten und oft verheerenden Strategien belohnt.
- Kettenkämpfe als Motivator: Sie machen das Grinding spannender und lohnender, indem sie ein Risiko-Belohnungs-Element hinzufügen.
- Einzigartigkeit: Das System hebt sich deutlich von der Masse der JRPGs ab.
Argumente für „Überladen”:
- Steile Lernkurve: Neueinsteiger können von der Komplexität aus Brave/Default, Job-System, Ausrüstung, Fähigkeitspunkten und Synergien schnell überfordert sein.
- Potenzial zur Trivialisierung: Sobald man die mächtigen Synergien entdeckt hat, können viele normale Kämpfe und sogar einige Bosse trivial werden, was den Anreiz für weitere strategische Überlegungen mindert.
- Grinding-Aspekt: Um alle Berufe zu meistern und alle Fähigkeiten freizuschalten, ist immer noch ein erheblicher Zeitaufwand nötig, auch wenn Kettenkämpfe es erleichtern.
- SP-Kauf: Die Möglichkeit, SP für Bravely Second zu kaufen, kann den Eindruck erwecken, dass ein Teil des Spiels durch Echtgeldvorteile einfacher wird, auch wenn SP auch passiv generiert werden.
- Mikromanagement: Für manche Spieler kann das ständige Wechseln von Jobs, Fähigkeiten und Ausrüstung zwischen den Kämpfen als zu viel Mikromanagement empfunden werden.
Fazit: Ein System für Kenner
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kampfsystem von Bravely Second: End Layer zweifellos ein Meisterwerk der Strategie und des Designs ist. Es fordert den Spieler heraus, belohnt Experimente und bietet eine Tiefe, die in kaum einem anderen JRPG zu finden ist. Es ist definitiv nicht „überladen” im Sinne von „schlecht designt” oder „unnötig kompliziert”, sondern eher „anspruchsvoll” und „tiefgründig”.
Für Spieler, die sich gerne in Systemen verlieren, die gerne optimieren und die strategische Tiefe über einfache Knopfdruck-Action stellen, ist Bravely Second ein absolutes Muss. Es ist ein Spiel, das seine Geheimnisse offenbart und seine größten Belohnungen denen zuteilwerden lässt, die bereit sind, sich darauf einzulassen und die Komplexität zu meistern. Ja, es hat eine Lernkurve, und ja, es kann anfangs einschüchternd wirken. Aber die Belohnung, wenn man eine perfekte Job-Kombination findet oder einen schwierigen Bosskampf durch cleveres BP-Management und den gezielten Einsatz von Bravely Second meistert, ist unbezahlbar. Es ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie ein Nintendo 3DS RPG das Genre auf einzigartige Weise bereichern kann – definitiv genial!