Daten-Albtraum oder lösbare Aufgabe? Alles zur gefürchteten SAP S/4HANA-Kopierproblematik

Die Migration zu SAP S/4HANA ist für viele Unternehmen nicht nur ein technisches Upgrade, sondern eine fundamentale Transformation ihrer Geschäftsprozesse. Im Zuge dieser Mammutaufgabe taucht jedoch immer wieder ein spezielles Schreckgespenst auf, das vielen IT-Verantwortlichen den Schlaf raubt: die S/4HANA-Kopierproblematik. Was einst eine Routineaufgabe war – das Kopieren von Produktivsystemen, um Test-, Entwicklungs- oder Schulungsumgebungen zu schaffen – hat sich im S/4HANA-Kontext zu einer komplexen Herausforderung entwickelt. Doch ist es wirklich ein unbezwingbarer Albtraum, oder handelt es sich um eine Aufgabe, die mit der richtigen Strategie und den passenden Werkzeugen erfolgreich gemeistert werden kann?

Was ist das „S/4HANA-Kopierproblem” überhaupt?

Im Kern geht es bei einer Systemkopie darum, eine exakte Replik (oder eine ausgewählte Teilmenge) eines produktiven SAP-Systems zu erstellen. Diese Kopien sind essenziell für die Entwicklung neuer Funktionen, das Testen von Updates oder die Schulung von Endanwendern, ohne das Live-System zu beeinträchtigen. Traditionell war dies zwar zeitaufwendig, aber ein etablierter Prozess. Mit SAP S/4HANA hat sich das Spiel jedoch grundlegend geändert:

• Die HANA-Datenbank: Das Herzstück von S/4HANA ist die In-Memory-Datenbank SAP HANA. Ihre Architektur ermöglicht unglaubliche Geschwindigkeiten, bringt aber auch neue Herausforderungen bei der Datenhaltung und -verwaltung mit sich. Traditionelle Kopierverfahren sind hier oft ineffizient oder ungeeignet.
• Massives Datenvolumen: Viele Unternehmen nutzen S/4HANA, um riesige Mengen an Finanz-, Logistik- und Kundendaten zu verarbeiten und zu analysieren. Die Datenvolumen in Produktivsystemen wachsen exponentiell, was das Kopieren zu einem monströsen Unterfangen macht.
• Neue Datenmodelle: Mit dem Universal Journal (ACDOCA) wurden viele redundante Tabellen konsolidiert. Das vereinfacht zwar die Anwendung, kann aber die Auswahl und das Kopieren von spezifischen Datenmengen komplizierter machen, da viele Informationen nun in einer einzigen, riesigen Tabelle gebündelt sind.
• Erhöhte Komplexität der Systemlandschaft: S/4HANA ist oft eng mit weiteren SAP-Lösungen (z.B. BW/4HANA, C/4HANA) und externen Systemen integriert. Eine Systemkopie muss diese komplexen Abhängigkeiten und Schnittstellen berücksichtigen.
• Compliance und Datenschutz: Die Kopie von produktiven, oft sensiblen Daten in Test- oder Entwicklungsumgebungen birgt erhebliche Risiken in Bezug auf Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und andere Compliance-Vorschriften. Eine anonymisierte oder pseudonymisierte Datenbasis ist oft zwingend erforderlich.

Die Ursachen des Albtraums: Warum ist es so gefürchtet?

Die oben genannten Punkte führen zu konkreten Problemen, die die S/4HANA-Kopierproblematik so gefürchtet machen:

• Astronomische Zeiten und Kosten: Eine vollständige Kopie eines großen S/4HANA-Produktivsystems kann Tage oder sogar Wochen dauern. Während dieser Zeit sind die Quellsysteme oft blockiert oder die Leistung stark beeinträchtigt. Hinzu kommen die hohen Speicheranforderungen für die Zielsysteme.
• Mangelnde Aktualität der Testsysteme: Aufgrund des hohen Aufwands werden Systemkopien seltener durchgeführt. Dies führt dazu, dass Test- und Entwicklungssysteme nicht den aktuellen Produktivdaten entsprechen. Das Ergebnis? Fehler, die im Test nicht gefunden werden, oder Entwicklungen, die nicht auf realistischen Daten basieren.
• Ressourcenfresser: Das Kopieren erfordert hochspezialisiertes Wissen über SAP-Basis, HANA-Datenbanken, Netzwerk und Speicher. Solche internen Ressourcen sind oft knapp und werden für operativ wichtigere Aufgaben benötigt.
• Hohe Fehleranfälligkeit: Manuelle Schritte bei der Systemkopie erhöhen das Risiko von Fehlern, die zu Dateninkonsistenzen oder gar Systemausfällen führen können.
• Compliance-Risiken: Der Umgang mit echten, sensiblen Kundendaten in Nicht-Produktivsystemen ist ein Compliance-Albtraum. Die schiere Menge an Daten macht eine manuelle Anonymisierung und Pseudonymisierung undenkbar.

Die Konsequenzen unzureichender Kopien

Die Auswirkungen eines schlecht gemanagten Systemkopierprozesses sind weitreichend:

• Fehler im Live-Betrieb: Ungenügende Testdaten oder veraltete Testsysteme führen dazu, dass neue Funktionen oder Patches im Produktivsystem Fehler verursachen.
• Verzögerte Projektphasen: Jedes Rollout, jedes Upgrade und jede Entwicklung neuer Features ist auf aktuelle und realistische Testsysteme angewiesen. Wenn diese nicht verfügbar sind, verzögern sich ganze Projekte.
• Mangelnde Qualität von Entwicklungen: Entwickler können ihre Anwendungen nicht unter realen Bedingungen testen, was zu suboptimalen oder fehlerhaften Lösungen führt.
• Rechtliche Konsequenzen: Verstöße gegen Datenschutzvorschriften können hohe Geldstrafen und Reputationsschäden nach sich ziehen.
• Geringere Effizienz und höhere Kosten: Debugging im Produktivsystem, wiederholte Testzyklen und der unnötige Verbrauch von Speicherplatz treiben die Betriebskosten in die Höhe.

Der Weg zur lösbaren Aufgabe: Strategien und Best Practices

Die gute Nachricht ist: Die SAP S/4HANA-Kopierproblematik ist keine unlösbare Aufgabe. Sie erfordert jedoch eine strategische Herangehensweise, den Einsatz der richtigen Werkzeuge und möglicherweise eine Änderung der Denkweise. Hier sind die wichtigsten Schritte, um den „Albtraum” in eine beherrschbare Aufgabe zu verwandeln:

1. Umfassende Planung ist das A und O

Bevor man auch nur eine Taste drückt, ist eine detaillierte Planung unerlässlich. Definieren Sie klar:

• Bedarfsanalyse: Welche Daten werden in den Zielsystemen wirklich benötigt? Eine vollständige Kopie ist selten die beste Lösung.
• Umfang und Typ der Kopie: Soll es eine vollständige Kopie sein, oder reicht eine selektive Kopie mit bestimmten Geschäftsbereichen, Gesellschaften oder Zeiträumen?
• Rollen und Verantwortlichkeiten: Wer ist für welche Schritte zuständig? Ein klares Organigramm ist Gold wert.
• Zeitplan und Ressourcen: Planen Sie ausreichend Zeit und die notwendigen IT-Ressourcen (Server, Speicher, Personal) ein.
• Risikobewertung: Identifizieren Sie potenzielle Fallstricke und entwickeln Sie Notfallpläne.

2. Technologische Unterstützung nutzen

SAP und Drittanbieter bieten eine Reihe von Tools, die den Kopierprozess erheblich vereinfachen und beschleunigen können:

• SAP Landscape Virtualization Management (LVM): Dieses Tool automatisiert die Provisionierung, das Klonen, Kopieren und Refreshing von SAP-Systemen. Es kann den manuellen Aufwand drastisch reduzieren und die Fehlerquote minimieren.
• SAP Test Data Migration Server (TDMS): TDMS ist speziell für das Testdatenmanagement konzipiert. Es ermöglicht die selektive Kopie von Geschäftsobjekten (z.B. Kunden, Aufträge, Projekte) aus dem Produktivsystem in Testsysteme. Dies ist besonders wertvoll, um die Größe der Testsysteme zu reduzieren und datenschutzkonform zu arbeiten.
• SAP Data Custodian: Für eine robuste Datenanonymisierung und Pseudonymisierung ist Data Custodian eine leistungsstarke Lösung, die sicherstellt, dass sensible Daten in Nicht-Produktivsystemen geschützt sind.
• Third-Party-Tools: Es gibt spezialisierte Anbieter (z.B. aus dem Bereich des Enterprise Test Data Management), die oft noch flexiblere und leistungsfähigere Lösungen für die Systemkopie und das Testdatenmanagement anbieten, insbesondere wenn es um die Reduzierung und Transformation von Daten geht.
• SAP DMO (Database Migration Option) der SUM: Auch wenn es primär für die Migration von Nicht-HANA-Datenbanken zu HANA gedacht ist, kann die DMO-Komponente bei komplexen Datenbank-Umzügen im Kontext einer S/4HANA-Migration nützlich sein.

3. Selektive Systemkopie und Datenanonymisierung

Dies ist der Game Changer im S/4HANA-Umfeld. Weg von der Full Copy, hin zur „Data Provisioning”:

• Vorteile der selektiven Kopie: Kleinere Systeme bedeuten kürzere Kopierzeiten, geringere Speicherkosten und bessere Übersichtlichkeit. Sie ermöglichen fokussierte Tests auf spezifische Geschäftsprozesse.
• Methoden: Ob Client Copy, Company Code Copy oder objektbasierte Kopie mittels TDMS – die Wahl hängt vom konkreten Bedarf ab.
• Datenanonymisierung: Implementieren Sie Prozesse und Tools zur Anonymisierung oder Pseudonymisierung sensibler Daten, bevor sie in Nicht-Produktivsysteme gelangen. Dies schützt nicht nur vor Datenschutzverstößen, sondern ermöglicht auch eine freiere Nutzung der Daten für Tests und Entwicklungen.

4. Automatisierung als Schlüssel zum Erfolg

Die Automatisierung des Systemkopierprozesses ist entscheidend. Tools wie SAP LVM ermöglichen es, wiederkehrende Aufgaben zu standardisieren und ohne manuellen Eingriff auszuführen. Dies reduziert nicht nur Fehler, sondern ermöglicht auch häufigere Aktualisierungen der Testsysteme, was zu höherer Qualität und schnelleren Entwicklungszyklen führt.

5. Regelmäßige Kommunikation und Stakeholder-Management

Transparenz ist wichtig. Informieren Sie alle Beteiligten (Entwickler, Tester, Fachbereiche) über den Status der Systemkopien und die Verfügbarkeit der Testsysteme. Klären Sie Erwartungen bezüglich des Datenumfangs und der Aktualität.

6. Externe Expertise in Betracht ziehen

Falls das interne Know-how oder die Ressourcen fehlen, kann die Zusammenarbeit mit spezialisierten Dienstleistern, die Erfahrung mit S/4HANA-Systemkopien und Testdatenmanagement haben, von unschätzbarem Wert sein. Diese Partner können Best Practices einbringen, bei der Tool-Auswahl beraten und den Prozess aktiv begleiten.

Fallstricke und Herausforderungen (trotzdem)

Selbst mit der besten Strategie und den richtigen Tools gibt es einige spezifische Punkte, die bei S/4HANA-Kopien besondere Aufmerksamkeit erfordern:

• Schnittstellen zu Drittsystemen: Nach einer Kopie müssen alle Schnittstellen zu externen Systemen (z.B. Payment-Gateways, CRM-Systeme) neu konfiguriert und angepasst werden, um nicht versehentlich Produktivsysteme zu beeinflussen.
• Embedded Analytics und Fiori: Die Konfiguration von Fiori-Apps und eingebetteten Analysefunktionen ist komplex und muss nach einer Kopie oft angepasst werden, um auf die richtigen Datenquellen im neuen System zu verweisen.
• Spezielle Tabellen: Die schiere Größe von Tabellen wie ACDOCA (Universal Journal) oder MATDOC kann selbst bei selektiven Kopien noch immer eine Herausforderung darstellen. Hier sind spezielle Optimierungen und Ansätze erforderlich.
• Customizing-Migration: Nicht alle Customizing-Einstellungen sind Teil der Standardkopie und müssen gegebenenfalls manuell oder über spezielle Transporte nachgezogen werden.

Ein Blick in die Zukunft: Vereinfachungen durch die SAP?

Die SAP ist sich der Herausforderungen bewusst. Mit Initiativen wie RISE with SAP und dem Fokus auf Cloud-Bereitstellung versucht man, viele dieser Probleme zu abstrahieren. In einer Cloud-Umgebung könnte die Bereitstellung von Testsystemen durch den Anbieter (Shared Services) oder durch vorkonfigurierte Mandanten vereinfacht werden. Zudem arbeitet SAP kontinuierlich an der Verbesserung ihrer eigenen Tools wie LVM und TDMS, um den Prozess effizienter und benutzerfreundlicher zu gestalten.

Fazit: Vom Albtraum zur lösbaren Aufgabe

Die SAP S/4HANA-Kopierproblematik ist zweifellos eine große Herausforderung, die nicht unterschätzt werden darf. Sie ist jedoch kein unüberwindbarer „Daten-Albtraum”, sondern eine komplexe Aufgabe, die mit der richtigen Strategie, den passenden Technologien und einem proaktiven Ansatz erfolgreich bewältigt werden kann. Der Schlüssel liegt in einer detaillierten Planung, dem gezielten Einsatz von Testdatenmanagement und Automatisierungstools sowie dem Fokus auf selektive Kopien und Compliance. Wer diese Prinzipien beherzigt, wird nicht nur qualitativ hochwertige Testsysteme bereitstellen, sondern auch die Effizienz seiner IT-Operationen steigern, Innovationszyklen beschleunigen und gleichzeitig die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften sicherstellen. Es ist Zeit, die Angst vor der S/4HANA-Kopie abzulegen und sie als Chance zu begreifen, die eigene Systemlandschaft zukunftsfähig zu machen.