Kennen Sie das Szenario? Sie sitzen am Schreibtisch, sind in Ihre Arbeit vertieft, da kommt ein Kollege oder eine Kollegin vorbei und gibt Ihnen eine Anweisung, fragt nach dem Stand Ihres Projekts, als wäre er oder sie Ihr direkter Vorgesetzter. Oder noch schlimmer: Er teilt Ihnen mit, wie Sie Ihre Aufgaben zu erledigen haben, obwohl er keinerlei Weisungsbefugnis besitzt. Dieses Phänomen ist weit verbreitet und kann den Büroalltag erheblich belasten: Ein Kollege spielt Boss, ohne tatsächlich die Position eines Chefs innezuhaben.
Es ist eine paradoxe Situation. Einerseits will man den Teamfrieden nicht stören, andererseits untergräbt dieses Verhalten die professionellen Strukturen und kann die eigene Motivation empfindlich treffen. Wie geht man damit um, wenn jemand auf Chef machen will, aber kein Chef ist? Dieser Artikel beleuchtet die Hintergründe dieses Verhaltens, seine Auswirkungen auf das Team und – am wichtigsten – bietet Ihnen praktische Strategien, um souverän, professionell und gelassen damit umzugehen. Ziel ist es, nicht nur Ihr Arbeitsklima zu verbessern, sondern auch Ihre eigene Rolle und Grenzen am Arbeitsplatz klar zu definieren.
Die Psychologie dahinter: Warum macht der Kollege auf Chef?
Bevor wir uns den Lösungsansätzen widmen, ist es hilfreich zu verstehen, warum ein Kollege oder eine Kollegin sich so verhält. Oft steckt hinter dem vermeintlichen Kontrollwahn mehr als nur böse Absicht:
- Unsicherheit und Kontrollbedürfnis: Manchmal versuchen Menschen, ihre eigenen Unsicherheiten oder Ängste durch übertriebene Kontrolle zu kompensieren. Indem sie Anweisungen geben, fühlen sie sich kompetenter oder wichtiger.
- Ehrgeiz und Aufstiegswunsch: Der Kollege könnte den Wunsch haben, eine Führungsposition einzunehmen und testet unbewusst oder bewusst seine „Fähigkeiten” aus, noch bevor er die formelle Befugnis dazu hat. Er sieht sich möglicherweise bereits in einer zukünftigen Rolle.
- Unklare Rollen und Strukturen: In Unternehmen, in denen Hierarchien oder Verantwortlichkeiten nicht klar definiert sind, kann es zu einem Vakuum kommen. Manche Kollegen springen in diese Lücke, vielleicht in dem Glauben, sie würden dem Team helfen, indem sie eine (informelle) Führungsposition einnehmen.
- Unbewusstes Verhalten: Es ist durchaus möglich, dass dem Kollegen sein Verhalten gar nicht bewusst ist. Er könnte glauben, er sei hilfsbereit, proaktiv oder einfach nur kommunikativ, ohne zu merken, dass er Grenzen überschreitet oder Ihre Rolle untergräbt.
- De-facto-Delegation: Manchmal delegiert der tatsächliche Vorgesetzte Aufgaben an einen bestimmten Kollegen, ohne ihm jedoch die formelle Autorität oder den Titel zu verleihen. Dieser Kollege ist dann in einer Zwickmühle und versucht, seine neuen (aber unklaren) Verantwortlichkeiten zu erfüllen.
- Persönlichkeit und Temperament: Manche Menschen sind von Natur aus dominanter, proaktiver oder haben einen starken Drang, Dinge zu organisieren und zu lenken. Dies kann im Berufsalltag – ohne offizielle Rolle – zu Problemen führen.
Das Verständnis dieser potenziellen Motive kann helfen, die Situation weniger persönlich zu nehmen und mit mehr Empathie und strategischem Geschick anzugehen.
Die Auswirkungen: Wenn die Hierarchie Kopf steht
Ein Kollege, der sich wie ein Chef aufspielt, hat weitreichende Konsequenzen für das Arbeitsumfeld:
- Demotivation und Frustration: Nichts ist frustrierender, als für seine Arbeit kritisiert oder bevormundet zu werden, obwohl die Person keine Weisungsbefugnis hat. Dies kann die eigene Arbeitsfreude und das Engagement stark mindern.
- Verwirrung und Ineffizienz: Wenn unklar ist, wer welche Anweisungen geben darf, führt das zu doppelter Arbeit, Missverständnissen und einer ineffizienten Arbeitsweise. Die eigentlichen Aufgaben bleiben möglicherweise auf der Strecke.
- Spannungen und Konflikte: Das Verhalten kann zu schwelenden oder offenen Konflikten im Team führen. Vertrauen geht verloren, und die Zusammenarbeit leidet massiv.
- Geringeres Teamklima: Ein informelle Hierarchie, die nicht offiziell ist, kann das Gefühl von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt zerstören. Das Team teilt sich in „Befehlshaber” und „Befehlsempfänger”, was für schlechte Stimmung sorgt.
- Stress und Burnout-Risiko: Der ständige Druck, unautorisierte Anweisungen erfüllen oder abwehren zu müssen, kann zu zusätzlichem Stress und mentaler Belastung führen.
Es ist daher entscheidend, diese Dynamik zu erkennen und aktiv anzugehen, um die negativen Auswirkungen zu minimieren.
Der Weg zum souveränen Umgang: Praktische Strategien
Der Umgang mit einem Kollegen, der sich wie ein Boss verhält, erfordert Taktgefühl, Professionalität und manchmal eine Portion Mut. Hier sind praxiserprobte Strategien:
1. Analyse der Situation: Ist es wirklich ein Problem?
Bevor Sie handeln, nehmen Sie sich einen Moment Zeit zur Reflexion. Handelt es sich um ein einmaliges Vorkommnis oder ein wiederkehrendes Muster? Ist der Kollege tatsächlich übergriffig, oder interpretiert er lediglich eine Anweisung des echten Vorgesetzten? Manchmal ist es auch nur eine gut gemeinte Hilfestellung oder eine missverständliche Ausdrucksweise. Beobachten Sie das Verhalten über einen gewissen Zeitraum und notieren Sie sich konkrete Beispiele. Das hilft Ihnen, die Situation objektiv zu beurteilen und nicht überzureagieren.
2. Direkte, aber respektvolle Kommunikation: Das Vier-Augen-Gespräch
Dies ist oft der erste und wichtigste Schritt. Sprechen Sie den Kollegen direkt an – aber nicht vor dem gesamten Team. Suchen Sie einen privaten Moment und Ort, an dem Sie ungestört sind. Bleiben Sie ruhig, sachlich und professionell.
- Wählen Sie den richtigen Zeitpunkt: Vermeiden Sie es, das Thema in einem Moment hoher Anspannung oder Frustration anzusprechen.
- Nutzen Sie „Ich-Botschaften”: Anstatt „Du machst immer auf Chef” zu sagen, formulieren Sie Ihre Wahrnehmung aus Ihrer Perspektive. Zum Beispiel: „Mir ist aufgefallen, dass du mir in letzter Zeit häufiger Aufgaben zuweist oder meine Arbeitsweise kommentierst, und ich fühle mich dadurch manchmal verunsichert, da meine Anweisungen direkt von [Name des echten Vorgesetzten] kommen.”
- Nennen Sie konkrete Beispiele: Statt allgemeiner Anschuldigungen (die leicht abgewiesen werden können), beziehen Sie sich auf spezifische Situationen. „Letzte Woche, als ich an X gearbeitet habe, hast du mir gesagt, ich solle stattdessen Y priorisieren. Das hat mich irritiert, weil ich bereits andere Anweisungen hatte.”
- Erklären Sie die Auswirkungen: Machen Sie deutlich, wie sich sein Verhalten auf Ihre Arbeit oder Ihr Befinden auswirkt. „Das führt dazu, dass ich unsicher bin, wessen Anweisungen ich folgen soll, und es bremst mich in meiner Arbeit aus.”
- Hören Sie zu: Geben Sie dem Kollegen die Möglichkeit, seine Perspektive darzulegen. Vielleicht gibt es eine Begründung für sein Verhalten, die Sie noch nicht kennen.
- Ziel: Klärung, nicht Anklage: Ihr Ziel ist es, Missverständnisse auszuräumen und eine klare Linie zu ziehen, nicht den Kollegen öffentlich an den Pranger zu stellen.
3. Klare Grenzen setzen: Höflich, aber bestimmt Nein sagen
Oft ist das Verhalten des Kollegen darauf zurückzuführen, dass niemand ihm seine Grenzen aufzeigt. Lernen Sie, auf unberechtigte Anweisungen höflich, aber bestimmt zu reagieren. Ihre Körpersprache sollte Ihre Entschlossenheit unterstreichen.
- „Das ist nett gemeint, aber…”: „Danke für den Hinweis, aber ich habe hierzu bereits eine klare Anweisung von [Name des Vorgesetzten] erhalten und werde mich daran halten.”
- Verweis auf die Hierarchie: „Ich melde mich direkt bei [Name des Vorgesetzten] zurück, sobald die Aufgabe erledigt ist.”
- Nachfragen der Befugnis: „Ich verstehe. Von wem hast du die Anweisung erhalten, diese Aufgabe zu delegieren?” oder „Hast du dazu Rücksprache mit [Name des Vorgesetzten] gehalten?”
- Fokus auf die eigene Rolle: „Meine Prioritäten für heute sind von [Name des Vorgesetzten] klar definiert. Ich muss mich darauf konzentrieren.”
Das Grenzen setzen ist essenziell. Wenn Sie einmal nachgeben, wird der Kollege sein Verhalten wahrscheinlich wiederholen.
4. Fokus auf die eigenen Aufgaben: Ablenkungen minimieren
Lassen Sie sich nicht in unnötige Machtspiele hineinziehen. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Kernaufgaben und die Erwartungen Ihres tatsächlichen Vorgesetzten. Zeigen Sie durch Ihre Professionalität und Effizienz, dass Sie Ihre Rolle kennen und ausfüllen können. Lassen Sie sich nicht von unautorisierten „Zwischenrufen” von Ihrem eigentlichen Arbeitsfluss ablenken.
5. Dokumentation (bei Bedarf): Für den Fall der Fälle
Sollte das Verhalten des Kollegen trotz direkter Ansprache anhalten oder sich verschlimmern, kann eine Dokumentation hilfreich sein. Notieren Sie sich:
- Datum, Uhrzeit und Ort des Vorfalls.
- Was genau gesagt oder getan wurde (konkrete Zitate, Anweisungen).
- Wie Sie darauf reagiert haben.
- Welche Auswirkungen das Verhalten auf Ihre Arbeit hatte.
Diese Notizen dienen nicht der Rache, sondern als objektive Grundlage für ein Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten oder der Personalabteilung, falls eine Eskalation notwendig wird.
6. Eskalation als letzter Ausweg: Gespräche mit Vorgesetzten oder HR
Wenn alle vorherigen Schritte – insbesondere die direkte Kommunikation – fehlschlagen und das Problem weiterhin besteht oder sich sogar verschlimmert, ist es Zeit, Ihren tatsächlichen Vorgesetzten oder die Personalabteilung (HR) einzuschalten. Betrachten Sie dies nicht als „Petzen”, sondern als verantwortungsvollen Schritt, um ein Problem zu lösen, das die Produktivität und das Teamklima beeinträchtigt.
- Vorbereitung: Legen Sie die Fakten dar (nutzen Sie ggf. Ihre Dokumentation). Bleiben Sie sachlich und professionell.
- Fokus auf das Problem, nicht die Person: Beschreiben Sie, wie das Verhalten des Kollegen die Arbeitsabläufe stört, Verwirrung stiftet oder das Teamklima belastet.
- Lösungsansatz: Sprechen Sie an, was Sie bereits versucht haben, um die Situation zu klären. Das zeigt Initiative. Bitten Sie um Unterstützung bei der Lösung des Problems, z.B. durch eine Klärung der Zuständigkeiten oder ein gemeinsames Gespräch.
- Betonen Sie die Auswirkungen: Erklären Sie, wie das Verhalten Ihre Leistung oder die des Teams beeinträchtigt, um die Dringlichkeit zu unterstreichen.
Was Sie unbedingt vermeiden sollten
Um die Situation nicht noch zu verschlimmern, gibt es auch einige Dinge, die Sie tunlichst unterlassen sollten:
- Emotional reagieren: Wut, Frustration oder öffentliche Konfrontation sind kontraproduktiv und unprofessionell.
- Lästereien: Über den Kollegen hinter seinem Rücken zu reden, verschlechtert das Arbeitsklima nur noch mehr und kann als unprofessionell wahrgenommen werden.
- Selbst zum „Gegenspieler” werden: Steigen Sie nicht in einen Machtkampf ein, indem Sie selbst versuchen, den Kollegen zu dominieren oder ihm unbegründete Anweisungen zu geben.
- Anweisungen ignorieren, ohne zu kommunizieren: Einfaches Ignorieren von unautorisierten Anweisungen ohne jegliche Kommunikation kann zu Missverständnissen und weiteren Konflikten führen. Klären Sie lieber proaktiv.
- Das Problem aussitzen: Die Hoffnung, dass es sich von selbst löst, ist trügerisch. Oft verschlimmert sich das Verhalten, wenn es keine Reaktion hervorruft.
Langfristige Perspektive: Ein gesundes Arbeitsklima schaffen
Idealerweise sollten Führungskräfte klare Strukturen und Kommunikationswege etablieren, um solches Verhalten von vornherein zu unterbinden. Eine offene Feedback-Kultur, regelmäßige Mitarbeitergespräche und transparente Erwartungen an alle Teammitglieder können präventiv wirken. Unternehmen, die eine Kultur fördern, in der Kommunikation am Arbeitsplatz transparent und respektvoll ist, erleben seltener solche internen Machtkämpfe.
Letztlich tragen alle Teammitglieder eine Verantwortung für ein positives Arbeitsumfeld. Indem Sie professionell und proaktiv mit Herausforderungen wie einem Kollegen, der sich als Boss aufspielt, umgehen, tragen Sie aktiv dazu bei, eine Atmosphäre des Respekts und der Effizienz zu schaffen.
Fazit: Souveränität zahlt sich aus
Ein Kollege, der auf Chef macht, kann eine echte Belastung im Büroalltag sein. Doch Sie sind dem nicht hilflos ausgeliefert. Indem Sie die Situation analysieren, direkt und respektvoll kommunizieren, klare Grenzen setzen und bei Bedarf Unterstützung suchen, können Sie die Situation meistern. Ihr professionelles und souveränes Vorgehen schützt nicht nur Ihre eigene Produktivität und Ihr Wohlbefinden, sondern trägt auch maßgeblich zu einem besseren Teamdynamik und einem harmonischeren Arbeitsumfeld bei. Denken Sie daran: Ihre Kompetenz und Ihre Rolle definieren Sie selbst – und nicht Ihr Kollege.