Die Zeit des Abiturs ist für viele Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern eine Phase intensiver Vorbereitung, großer Erwartungen und – leider oft auch – erheblicher Verwirrung. Ein Satz, der in diesem Kontext immer wieder auftaucht und für Kopfzerbrechen sorgt, lautet: „Man braucht je zwei Leistungskurse und 20 Punkte.“ Doch was genau bedeutet das eigentlich? Ist es wirklich so, dass jedes Fach im Leistungskurs (LK) mit mindestens 20 Punkten bewertet werden muss? Oder verbirgt sich dahinter ein weitaus komplexeres System, das oft missverstanden wird?
Tauchen wir ein in das Herz dieser Verwirrung und entwirren wir das „Punkte-Chaos“, das viele Gymnasiasten unnötig unter Druck setzt. Spoiler: Die landläufige Interpretation dieser Aussage ist in den meisten Fällen ein Mythos.
Der Ursprung des Missverständnisses: Mythos vs. Realität
Die Annahme, man müsse in jedem Leistungskurs 20 Punkte erreichen, ist weit verbreitet. Sie geistert durch Schulhöfe, Elternabende und Online-Foren. Wer jedoch einen Blick auf das deutsche Notensystem wirft, wird schnell stutzig: Die maximale Punktzahl, die in einem Semester oder einer Abiturprüfung erreicht werden kann, liegt bei 15 Punkten (entspricht einer Note 1+). Wie können also 20 Punkte pro Fach gefordert werden? Hier liegt der Kern des Missverständnisses.
Die „20 Punkte“-Regel, wenn sie denn in dieser Form existiert, bezieht sich fast immer auf eine spezifische Berechnung im Rahmen der Abiturprüfung, nicht auf die Einzelbewertung von Semestern oder die Gesamtsumme der erbrachten Leistungen in der Qualifikationsphase. Sie ist häufig das Resultat einer missverstandenen oder verkürzten Darstellung komplexer Abiturberechnungsmodelle, die in den verschiedenen Bundesländern Deutschlands angewendet werden.
Das deutsche Abitur: Ein komplexes Punktesystem
Um das „Punkte-Chaos“ zu entwirren, müssen wir das deutsche Abitur in seinen Grundzügen verstehen. Es gliedert sich grob in zwei Teile:
- Die Qualifikationsphase (Jahrgangsstufen 11/12 oder 12/13, je nach Bundesland), in der über vier Halbjahre hinweg Punkte in Grund- und Leistungskursen gesammelt werden.
- Die Abiturprüfung, die aus mehreren Klausuren und eventuell einer mündlichen Prüfung besteht.
Die Qualifikationsphase: Punkte sammeln
In der Qualifikationsphase belegen Schüler in der Regel zwei Leistungskurse (LKs) und eine Reihe von Grundkursen (GKs). Die Noten werden in Punkte umgerechnet, wobei 15 Punkte der Bestnote 1+ entsprechen und 0 Punkte einer ungenügenden Leistung.
- Leistungskurse: Die Ergebnisse der vier Halbjahre in den beiden LKs werden in der Regel doppelt gewertet. Das bedeutet, dass die Leistungen in diesen Fächern einen erheblichen Einfluss auf die spätere Abiturnote haben.
- Grundkurse: Die Ergebnisse einer bestimmten Anzahl von GKs (meist zwischen 20 und 24, je nach Bundesland und Belegverpflichtung) gehen einfach in die Wertung ein.
Die Summe dieser Punkte bildet einen Teil der Gesamtqualifikation für das Abitur. Hier gibt es Mindestpunktzahlen, die erreicht werden müssen, und es dürfen nur eine bestimmte Anzahl von Kursen mit weniger als 5 Punkten (Unterkurse) vorhanden sein. Aber nirgendwo ist von „20 Punkten pro LK“ die Rede.
Die Abiturprüfung: Der zweite Pfeiler
Der zweite Teil ist die Abiturprüfung selbst. Sie besteht typischerweise aus fünf Prüfungsfächern: den beiden Leistungskursen, zwei weiteren schriftlichen Grundkursen und einem mündlichen Grundkurs (oder einer Besonderen Lernleistung).
Und hier kommen wir der „20-Punkte“-Regel schon näher. Die Ergebnisse der Abiturprüfungen werden im deutschen System, je nach Bundesland, unterschiedlich gewichtet. Oftmals werden die Leistungen in den Leistungskurs-Prüfungen fünffach gewertet, während die Grundkurs-Prüfungen dreifach gewertet werden.
- Ein Leistungskurs-Ergebnis (z.B. 10 Punkte in der Prüfung) würde bei fünffacher Wertung zu 50 Punkten in der Abiturberechnung führen.
- Ein Grundkurs-Ergebnis (z.B. 10 Punkte in der Prüfung) würde bei dreifacher Wertung zu 30 Punkten führen.
Die Entschlüsselung der „20 Punkte“: Woher kommt der Mythos?
Der häufigste Ursprung der „20 Punkte“-Regel liegt in der Mindestanforderung für das Bestehen von Leistungskurs-Prüfungen im Abitur. In vielen Bundesländern ist es so geregelt, dass man in den Leistungskurs-Prüfungen mindestens eine bestimmte Punktzahl erreichen muss, damit die Leistung überhaupt als bestanden gilt. Diese Punktzahl ist oft so festgelegt, dass das „ausreichend“ (4 Notenpunkte) nach fünffacher Wertung 20 Punkte ergibt.
Das heißt: Wenn ein Schüler in seiner Leistungskurs-Abiturprüfung 4 Punkte erzielt (entspricht der Note 4, also „ausreichend“), dann werden diese 4 Punkte fünffach gewertet. Das Ergebnis für diese einzelne Prüfungskomponente in der Gesamtberechnung ist dann 4 * 5 = 20 Punkte.
Die 20 Punkte sind also nicht die Punktzahl, die in der Prüfung selbst erreicht werden muss (dort sind es 4 Punkte), sondern die Punktzahl, die *nach der fünffachen Wertung* dieser Prüfung ins Gesamtabitur eingeht. Dies ist der absolute Mindestwert, um die Prüfung nicht mit 0 Punkten zu bewerten. Erreicht ein Schüler weniger als 4 Punkte (z.B. 3 Punkte), so gilt die Leistung als unzureichend, und die 5-fache Wertung würde zu 15 Punkten führen, was in vielen Systemen als nicht bestanden zählt oder zu einer Nachprüfung führen kann.
Es handelt sich also um eine Mindestanforderung in der Abiturprüfung, nicht um eine Durchschnitts- oder Summenanforderung für die Semester der Qualifikationsphase. Der Mythos, man brauche in *jedem* LK *immer* 20 Punkte, ist daher falsch und irreführend.
Das Zusammenspiel: Gesamtqualifikation für das Abitur
Das Abitur ist ein Gesamtkunstwerk aus den Leistungen der Qualifikationsphase und der Abiturprüfung. Die maximale Gesamtpunktzahl für das Abitur liegt in den meisten Bundesländern bei 900 Punkten. Um das Abitur zu bestehen, muss eine Mindestpunktzahl erreicht werden (häufig 300 Punkte).
Die Qualifikationsphase macht dabei in der Regel einen Großteil der Punkte aus (z.B. 600 Punkte von 900), während die Abiturprüfung den restlichen Teil (z.B. 300 Punkte von 900) beiträgt. Die genaue Gewichtung variiert.
Innerhalb dieses komplexen Gefüges sind die „20 Punkte” ein kleines, aber oft missverstandenes Detail, das sich auf eine minimale Anforderung in den gewichteten Prüfungsergebnissen der Leistungskurse bezieht.
Warum die Verwirrung so hartnäckig ist
Die Gründe für das anhaltende Punkte-Chaos sind vielfältig:
- Komplexität des Systems: Die Abiturregelungen sind tatsächlich kompliziert und von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Selbst Lehrer und Schüler tun sich manchmal schwer, alle Nuancen zu überblicken.
- Informationsdefizite: Oftmals werden Informationen von Schülern zu Schülern weitergegeben, ohne auf offizielle Quellen zurückzugreifen. Dabei gehen Details verloren oder werden falsch interpretiert.
- Druck und Missverständnisse: Der hohe Druck, der auf Abiturienten lastet, führt dazu, dass jede vermeintliche „Regel“ ernst genommen wird, auch wenn sie auf einem Missverständnis beruht. Eltern und Schüler suchen nach einfachen Faustregeln in einem komplexen System.
- Sprachliche Verkürzung: Die genaue Formulierung der Kultusministerkonferenz (KMK) oder der jeweiligen Landesverordnungen ist oft sehr juristisch. Die verkürzte Kommunikation, wie z.B. „20 Punkte“, bleibt dann hängen.
Die Folgen des Missverständnisses
Das „Punkte-Chaos“ hat konkrete Auswirkungen:
- Unnötiger Stress: Schüler, die glauben, in jedem Semester 20 Punkte erreichen zu müssen, setzen sich einem immensen, unerreichbaren Druck aus. Das kann zu Angstzuständen und Überforderung führen.
- Falsche Schwerpunktsetzung: Manchmal werden Fächer aus Angst vor dem vermeintlichen 20-Punkte-Druck nicht gewählt, obwohl sie den Interessen und Stärken der Schüler entsprechen würden.
- Demotivation: Wenn Schüler feststellen, dass sie „nur“ 12 oder 13 Punkte in einem LK-Semester haben, glauben sie fälschlicherweise, dass sie das Abitur nicht schaffen können, obwohl dies hervorragende Leistungen sind.
Was sollten Schüler und Eltern tun?
Um das „Punkte-Chaos“ zu vermeiden und Licht ins Dunkel zu bringen, sind hier einige konkrete Empfehlungen:
- Informiert euch an der Quelle: Die verlässlichsten Informationen zum Abitur findet ihr in den offiziellen Verordnungen eures Bundeslandes (z.B. der Abiturprüfungsordnung oder der gymnasialen Oberstufenverordnung). Diese sind oft auf den Webseiten der Kultusministerien oder der Schulen verfügbar.
- Sprecht mit euren Lehrern und Beratungslehrern: Eure Fachlehrer, Oberstufenkoordinatoren oder Beratungslehrer sind die besten Ansprechpartner. Sie kennen die genauen Regelungen und können individuelle Fragen beantworten.
- Fokus auf konsistente Leistung: Anstatt einem Phantom von „20 Punkten“ hinterherzujagen, konzentriert euch darauf, in allen Kursen – sowohl Leistungskursen als auch Grundkursen – konstant gute Leistungen zu erbringen. Jedes Semester zählt!
- Versteht das Punktesystem: Lasst euch das Gesamtpunktesystem des Abiturs (Qualifikationsphase + Prüfung) von der Schule genau erklären. Wenn ihr wisst, wie die Punkte gesammelt und gewichtet werden, verliert die „20-Punkte“-Regel ihren Schrecken.
- Bleibt realistisch: Seht 15 Punkte als das Maximum und jede Punktzahl ab 10 als sehr gut an. Diese Punkte helfen euch, ein hervorragendes Abitur zu erreichen, ganz ohne den Mythos der 20 Punkte pro Fach.
Fazit: Klarheit schaffen statt Chaos stiften
Die Aussage „je zwei Kurse und 20 Punkte“ ist ein klassisches Beispiel dafür, wie komplexe Regelungen im Volksmund vereinfacht und dabei leider oft falsch interpretiert werden. Die Wahrheit ist: Die 20 Punkte beziehen sich meist auf die Mindestleistung in einer gewerteten Abiturprüfung im Leistungskurs (4 Punkte in der Prüfung, die dann fünffach gewertet werden). Es ist keineswegs eine Anforderung für jedes einzelne Semester oder gar eine Mindestanforderung pro LK insgesamt.
Das deutsche Abitur ist ein anspruchsvolles, aber transparentes System, sobald man seine Regeln verstanden hat. Statt sich von Gerüchten oder vereinfachten Darstellungen verunsichern zu lassen, ist es entscheidend, sich aus erster Hand zu informieren und auf die Expertise der Schule zu vertrauen. Nur so können Schülerinnen und Schüler ihre Oberstufenzeit und die Abiturprüfungen mit realistischem Blick und ohne unnötigen Druck angehen.
Lassen wir das „Punkte-Chaos“ hinter uns und setzen wir auf Klarheit, Verständnis und eine fundierte Vorbereitung für einen erfolgreichen Abschluss.