Konflikt im Betrieb: Was tun, wenn sich Praktikum und Berufsschule überschneiden?

Die Duale Ausbildung in Deutschland ist ein Erfolgsmodell. Sie verbindet praktische Erfahrungen im Betrieb mit theoretischem Wissen in der Berufsschule. Doch was passiert, wenn diese beiden Säulen kollidieren? Eine häufige und frustrierende Situation ist die Überschneidung von Praktikumsphasen oder speziellen betrieblichen Projekten mit dem regulären Berufsschulunterricht. Für Auszubildende kann dies zu erheblichem Stress, Lernrückständen und sogar rechtlichen Problemen führen. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen solcher Konflikte, ihre Auswirkungen und bietet umfassende Strategien und Lösungen für alle Beteiligten.

Warum es zu Überschneidungen kommt: Eine Analyse der Ursachen

Die Gründe für Terminüberschneidungen sind vielfältig und reichen von mangelnder Koordination bis hin zu Missverständnissen bezüglich rechtlicher Vorgaben. Oft sind es folgende Faktoren, die zu diesem unerwünschten Szenario führen:

• Unzureichende Kommunikation: Manchmal fehlt es an einem frühzeitigen und transparenten Austausch zwischen Ausbildungsbetrieb und Berufsschule über Stundenpläne, Blockunterrichtszeiten oder spezifische Projektphasen.
• Starre Zeitpläne: Sowohl Schulen als auch Betriebe haben oft feste Strukturen, die wenig Flexibilität zulassen. Blockunterrichtszeiten der Berufsschule können plötzlich mit dringend anstehenden Projekten oder saisonalen Spitzen im Betrieb kollidieren.
• Unkenntnis der Rechtslage: Insbesondere kleinere Betriebe sind sich manchmal nicht vollständig der Priorität und der rechtlichen Verpflichtung der Berufsschulpflicht bewusst. Auch Auszubildende selbst unterschätzen bisweilen die Bedeutung des Schulbesuchs.
• Fehlende Koordination: Große Unternehmen mit vielen Auszubildenden können Schwierigkeiten haben, die individuellen Stundenpläne aller Auszubildenden und die betrieblichen Anforderungen optimal aufeinander abzustimmen.
• Kurzfristige Änderungen: Sowohl im Betrieb (z.B. ein eiliges Kundenprojekt) als auch in der Schule (z.B. ein Nachholtermin für eine Klausur) können kurzfristige Änderungen auftreten, die eine Überschneidung verursachen.
• Irrtümer bei Praktika: Bei „Praktika” im Sinne von Schulpraktika, die außerhalb der regulären Ausbildung stattfinden, aber im selben Betrieb, kann es zu Verwechslungen oder einer unklaren Abgrenzung kommen, die den regulären Berufsschulbesuch gefährden. Der Fokus dieses Artikels liegt jedoch auf der Dualen Ausbildung, bei der das Praktikum der betriebliche Teil der Ausbildung ist.

Die rechtliche Lage: Die Priorität der Berufsschule

Bevor wir uns den Lösungen widmen, ist es entscheidend, die rechtliche Grundlage zu verstehen. Das deutsche Berufsbildungsgesetz (BBiG) ist hier der zentrale Pfeiler. Es stellt klar, dass die Teilnahme am Berufsschulunterricht eine Pflicht des Auszubildenden ist und der Arbeitgeber diese zu ermöglichen hat. Konkret besagen die Paragraphen:

• § 15 BBiG (Freistellung für den Berufsschulunterricht): „Ausbildende haben Auszubildende für die Teilnahme am Berufsschulunterricht freizustellen.” Das bedeutet, die Zeit, die in der Berufsschule verbracht wird, gilt als Ausbildungszeit und muss vergütet werden. Auszubildende dürfen während dieser Zeit nicht im Betrieb eingesetzt werden.
• § 9 BBiG (Pflichten des Auszubildenden): Auch der Auszubildende hat die Pflicht, die Berufsschule zu besuchen und am Unterricht teilzunehmen.

Diese Regelungen machen deutlich: Die Berufsschulpflicht hat Vorrang. Ein Ausbilder darf seinen Auszubildenden nicht dazu anhalten, wegen betrieblicher Belange dem Unterricht fernzubleiben. Eine Verletzung dieser Pflicht kann ernste Konsequenzen haben, sowohl für den Auszubildenden (z.B. fehlende Kenntnisse, schlechte Noten) als auch für den Ausbildungsbetrieb (z.B. Abmahnung durch die Kammer, Bußgelder, Entzug der Ausbildungsberechtigung).

Die Auswirkungen von Überschneidungen: Eine Belastung für alle

Ein Konflikt zwischen Betrieb und Berufsschule hat weitreichende negative Folgen für alle Beteiligten:

Für den Auszubildenden:

• Stress und Überforderung: Der Druck, sowohl im Betrieb als auch in der Schule bestehen zu müssen, ohne ausreichend Zeit für beides zu haben, führt zu psychischer Belastung.
• Lernrückstände: Fehlender Unterrichtsstoff kann nur schwer nachgeholt werden, was sich negativ auf die Noten und das Verständnis der Ausbildungsinhalte auswirkt.
• Prüfungsangst: Die Sorge, die Abschlussprüfung aufgrund fehlender theoretischer Kenntnisse nicht zu bestehen, kann massiv werden.
• Demotivation: Wenn das Gefühl entsteht, zwischen den Stühlen zu sitzen und die eigene Ausbildung darunter leidet, schwindet oft die Motivation.
• Rechtliche Konsequenzen: Unentschuldigtes Fehlen in der Berufsschule kann im schlimmsten Fall zur Kündigung des Ausbildungsverhältnisses führen.

Für den Ausbildungsbetrieb:

• Rechtliche Risiken: Wie bereits erwähnt, drohen bei Verstößen gegen das BBiG Sanktionen durch die zuständigen Kammern (z.B. IHK oder HWK).
• Qualitätsverlust der Ausbildung: Wenn Auszubildende nicht die notwendige theoretische Grundlage erhalten, leidet die Gesamtqualität der Ausbildung. Dies wirkt sich auf die zukünftige Leistungsfähigkeit der Fachkräfte aus.
• Reputationsschaden: Betriebe, die sich nicht an die Ausbildungsregeln halten, können einen schlechten Ruf bekommen, was die Gewinnung neuer Auszubildender erschwert.
• Geringere Produktivität: Ein gestresster oder demotivierter Auszubildender kann im Betrieb nicht sein volles Potenzial entfalten.

Für die Berufsschule:

• Fehlzeitenmanagement: Hohe Fehlzeiten erschweren die Planung und Durchführung des Unterrichts.
• Lernlücken in der Klasse: Wenn einzelne Schüler fehlen, kann dies den Fortschritt der gesamten Klasse behindern, da der Stoff gegebenenfalls wiederholt werden muss.
• Kommunikationsaufwand: Die Schule muss sich mit Betrieben und Auszubildenden abstimmen, um die Probleme zu lösen.

Strategien zur Vermeidung und Lösung von Konflikten: Was tun?

Die gute Nachricht ist: Viele dieser Konflikte lassen sich vermeiden oder zumindest entschärfen. Es erfordert jedoch proaktives Handeln und offene Kommunikation von allen Seiten.

1. Proaktive Maßnahmen: Prävention ist der Schlüssel

Der beste Weg, Konflikte zu lösen, ist, sie gar nicht erst entstehen zu lassen.

• Frühzeitige und klare Kommunikation:
  • Ausbildungsbetrieb: Fordern Sie frühzeitig von der Berufsschule den Stunden- oder Blockplan an. Informieren Sie den Auszubildenden und den Ausbilder über diese Zeiten.
  • Berufsschule: Stellen Sie die Stundenpläne so früh wie möglich zur Verfügung und kommunizieren Sie Änderungen umgehend an die Betriebe.
  • Auszubildender: Legen Sie den Stundenplan dem Ausbilder vor und weisen Sie auf eventuelle Konflikte hin.
• Der Ausbildungsplan: Jede Ausbildung hat einen Ausbildungsplan. Dieser muss nicht nur die Lerninhalte, sondern auch die zeitliche Gliederung festlegen. Hier sollte die Abstimmung mit den Berufsschulzeiten explizit berücksichtigt werden. Die zuständige IHK oder HWK (Industrie- und Handelskammer bzw. Handwerkskammer) berät Betriebe bei der Erstellung.
• Realistische Planung: Planen Sie betriebliche Projekte und Praktikumsphasen unter Berücksichtigung der Berufsschulzeiten. Gerade bei Projekten, die eine kontinuierliche Anwesenheit erfordern, muss die Berufsschulpflicht absolut im Vordergrund stehen.
• Digitale Tools nutzen: Gemeinsame Kalender oder Projektmanagement-Tools können helfen, Termine abzustimmen und Überschneidungen zu visualisieren, bevor sie auftreten.
• Vereinbarungen treffen: Halten Sie mündliche Absprachen schriftlich fest, insbesondere wenn es um Ausnahmen oder spezielle Regelungen geht (z.B. Nachholen von verpasstem Stoff).

2. Reaktive Maßnahmen: Was tun, wenn es schon brennt?

Wenn eine Überschneidung bereits eingetreten ist, ist schnelles und besonnenes Handeln gefragt.

• Offene Kommunikation suchen:
  • Auszubildender: Suchen Sie umgehend das Gespräch mit Ihrem Ausbilder und dem Klassenlehrer oder der Schulleitung. Schildern Sie die Situation ruhig und sachlich. Betonen Sie, dass Sie Ihre Pflichten in beiden Bereichen ernst nehmen möchten.
  • Ausbildungsbetrieb: Kontaktieren Sie die Berufsschule, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Zeigen Sie Verständnis für die Berufsschulpflicht und die Notwendigkeit des Unterrichtsbesuchs.
  • Berufsschule: Nehmen Sie Kontakt mit dem Betrieb auf, um die Hintergründe der Fehlzeiten zu klären und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
• Priorität klarmachen: Die Berufsschule geht vor! Machen Sie als Ausbildungsbetrieb klar, dass die Berufsschule Priorität hat. Der Auszubildende muss freigestellt werden. Wenn eine betriebliche Aufgabe dadurch nicht erledigt werden kann, muss eine andere Lösung gefunden werden (z.B. Verschiebung, Delegation an andere Mitarbeiter).
• Dokumentation: Halten Sie alle Gespräche, Vereinbarungen und Fehlzeiten schriftlich fest. Dies ist wichtig, falls es zu weiteren Problemen kommt oder die Kammer eingeschaltet werden muss.
• Interne Lösungen im Betrieb:
  • Arbeitszeiten anpassen: Ist es möglich, die Arbeitszeiten flexibler zu gestalten, sodass der Auszubildende den Unterricht besuchen und die betrieblichen Aufgaben dennoch erledigen kann?
  • Aufgaben umverteilen: Können die Aufgaben, die der Auszubildende aufgrund des Schulbesuchs nicht erledigen kann, vorübergehend von anderen Mitarbeitern übernommen werden?
  • Nachholbedarf: Wenn der Auszubildende wegen eines unaufschiebbaren betrieblichen Grundes ausnahmsweise (und nur in Absprache!) die Schule verpassen sollte (was rechtlich heikel ist und vermieden werden sollte), muss der Betrieb die Möglichkeit geben, den versäumten Stoff nachzuholen. Dies kann durch interne Schulungen, Lernmaterialien oder die Freistellung für Nachhilfe erfolgen.
• Unterstützung suchen:
  • Ausbildungsberatung der Kammern (IHK/HWK): Diese Stelle ist neutral und berät sowohl Auszubildende als auch Betriebe bei Problemen im Ausbildungsverhältnis. Sie können vermitteln und auf die rechtlichen Rahmenbedingungen hinweisen.
  • Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) / Betriebsrat: In größeren Betrieben sind dies wichtige Ansprechpartner. Sie können sich für die Interessen der Auszubildenden einsetzen und auf Missstände aufmerksam machen.
  • Schulsozialarbeiter: An vielen Berufsschulen gibt es Sozialarbeiter, die bei Konflikten und Belastungen unterstützen können.
  • Rechtsberatung: In schwerwiegenden Fällen, in denen keine Einigung erzielt werden kann und die Ausbildung gefährdet ist, kann eine anwaltliche Beratung notwendig sein. Dies sollte jedoch der letzte Schritt sein.

Die Rolle der Beteiligten

Für eine erfolgreiche Ausbildung und zur Vermeidung von Konflikten müssen alle Akteure ihre Rolle aktiv und verantwortungsbewusst wahrnehmen:

• Der Auszubildende: Ist verpflichtet, am Unterricht teilzunehmen und im Betrieb mitzuarbeiten. Er oder sie sollte frühzeitig kommunizieren, wenn Überschneidungen drohen oder auftreten, und eigenverantwortlich lernen.
• Der Ausbildungsbetrieb: Ist verpflichtet, die Freistellung für die Berufsschule zu gewährleisten und die Ausbildung gemäß Ausbildungsrahmenplan zu gestalten. Er oder sie sollte proaktiv kommunizieren und flexibel auf die Bedürfnisse der Auszubildenden eingehen.
• Die Berufsschule: Ist für die Vermittlung des theoretischen Wissens zuständig. Sie sollte frühzeitig Stundenpläne kommunizieren, flexibel auf Rückmeldungen von Betrieben und Auszubildenden reagieren und bei Problemen unterstützen.
• Die Kammern (IHK/HWK): Überwachen die Ausbildung, beraten Betriebe und Auszubildende und greifen bei gravierenden Problemen ein.

Fazit: Gemeinsam für eine erfolgreiche Ausbildung

Überschneidungen zwischen Praktikum (bzw. dem betrieblichen Teil der Ausbildung) und Berufsschule sind eine ernste Herausforderung, die die Qualität der Ausbildung und die Zukunft junger Fachkräfte gefährden kann. Es ist jedoch eine Herausforderung, die mit offener Kommunikation, gegenseitigem Verständnis und einem klaren Bekenntnis zur Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen gemeistert werden kann. Die Berufsschulpflicht ist nicht verhandelbar, sondern die Grundlage für eine umfassende und qualitativ hochwertige Ausbildung. Wenn alle Beteiligten – Auszubildende, Betriebe und Berufsschulen – an einem Strang ziehen und die vielfältigen Unterstützungsangebote nutzen, steht einer erfolgreichen dualen Ausbildung nichts im Wege. Ziel muss es sein, dass Auszubildende ihr volles Potenzial entfalten können, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, um gut ausgebildete Fachkräfte für die Zukunft zu werden.