Arbeiten und trotzdem arm? Alles, was Sie als Aufstocker von Bürgergeld wissen müssen

Die Vorstellung ist tief in unserer Gesellschaft verankert: Wer arbeitet, verdient genug, um gut leben zu können. Doch die Realität vieler Menschen in Deutschland sieht anders aus. Trotz Vollzeit- oder Teilzeitarbeit reicht das Einkommen oft nicht aus, um die monatlichen Kosten zu decken. Sie gehören zur Gruppe der sogenannten „Armen trotz Arbeit“ oder, im bürokratischen Deutsch, den „Aufstockern“. Diese Menschen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen, um ihr Existenzminimum zu sichern. Seit dem 1. Januar 2023 ist das Bürgergeld die zentrale Leistung, die in solchen Fällen greift. Dieser Artikel beleuchtet umfassend, was es bedeutet, ein Aufstocker zu sein, wie das Bürgergeld funktioniert und welche Chancen es bietet.

Was bedeutet „Aufstocker“ wirklich?

Der Begriff Aufstocker beschreibt Menschen, deren Erwerbseinkommen – sei es aus Vollzeit-, Teilzeit- oder geringfügiger Beschäftigung – nicht ausreicht, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Bedarfsgemeinschaft (Familie) zu bestreiten. Sie „stocken“ ihr Gehalt mit staatlichen Leistungen auf, um die Lücke zwischen Einkommen und Existenzminimum zu schließen. Dies betrifft nicht nur Geringverdiener, sondern zunehmend auch Fachkräfte in schlecht bezahlten Branchen oder Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Pflegeverpflichtungen nur eingeschränkt arbeiten können.

Die Gründe, warum Menschen trotz Arbeit arm sind, sind vielfältig:

• Niedriglöhne: Trotz Mindestlohn sind viele Löhne in bestimmten Branchen zu gering, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken, insbesondere in Ballungsräumen.
• Teilzeitarbeit: Viele finden keine Vollzeitstelle oder können aus familiären/gesundheitlichen Gründen nur Teilzeit arbeiten.
• Unsichere Beschäftigungsverhältnisse: Befristete Verträge, Leiharbeit oder freiberufliche Tätigkeiten mit schwankenden Einnahmen erschweren die finanzielle Planung.
• Hohe Lebenshaltungskosten: Mieten, Energiepreise und die Kosten für Lebensmittel sind in den letzten Jahren drastisch gestiegen.
• Größe der Bedarfsgemeinschaft: Je mehr Personen in einem Haushalt leben, desto höher ist der Bedarf an finanziellen Mitteln.

Wichtig ist zu verstehen: Aufstocker sind keine „Faulen”, die sich auf Kosten des Staates ausruhen. Sie leisten einen Beitrag zur Gesellschaft, arbeiten und zahlen Steuern sowie Sozialabgaben. Die Notwendigkeit der Aufstockung ist oft ein Symptom struktureller Probleme auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und keine individuelle Schuld.

Vom Arbeitslosengeld II zum Bürgergeld: Was hat sich geändert?

Das Bürgergeld hat zum 1. Januar 2023 das umstrittene Arbeitslosengeld II (Hartz IV) abgelöst. Das Ziel der Reform war es, das System menschenwürdiger, gerechter und unbürokratischer zu gestalten. Für Aufstocker gibt es einige entscheidende Verbesserungen:

• Höhere Regelsätze: Die monatlichen Regelbedarfe wurden deutlich erhöht, um die Inflation besser auszugleichen und ein höheres Existenzminimum zu sichern.
• Erhöhte Freibeträge für Erwerbstätige: Dies ist die wichtigste Änderung für Aufstocker! Es bleibt mehr vom eigenen Einkommen übrig, bevor es auf das Bürgergeld angerechnet wird. Das macht Arbeit finanziell attraktiver und schafft Anreize, mehr zu arbeiten.
• Fokus auf Qualifizierung und Weiterbildung: Das Bürgergeld legt einen stärkeren Fokus auf die nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt durch Qualifizierung, Weiterbildung und den Erwerb von Berufsabschlüssen, anstatt nur auf die schnelle Vermittlung in irgendeinen Job. Es gibt eine Weiterbildungsprämie und ein Bürgergeldbonus bei bestimmten Weiterbildungen.
• Weniger Druck und mehr Kooperation: Der Grundsatz der „Kooperation” soll die Zusammenarbeit zwischen Leistungsempfänger und Jobcenter verbessern. Es gibt weniger rigide Sanktionen und mehr Zeit für die Jobsuche.
• Schonvermögen: Das Schonvermögen wurde erhöht, sodass Antragsteller weniger Angst haben müssen, sofort ihre Ersparnisse aufbrauchen zu müssen.
• Karenzzeit: In den ersten zwölf Monaten des Bezugs (Karenzzeit) werden die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung in der Regel vollständig übernommen und das Vermögen nur bei erheblichem Umfang berücksichtigt.

Bürgergeld für Aufstocker: Wie funktioniert’s genau?

Der Prozess, Bürgergeld als Aufstocker zu erhalten, mag komplex erscheinen, ist aber im Kern logisch aufgebaut. Es geht darum, Ihren Bedarf zu ermitteln und diesen dann mit Ihrem anzurechnenden Einkommen und Vermögen zu verrechnen.

1. Die Anspruchsvoraussetzungen

Sie können Bürgergeld beantragen, wenn Sie:

• mindestens 15 Jahre alt sind und die Altersgrenze für die Regelaltersrente noch nicht erreicht haben.
• erwerbsfähig sind, das heißt, Sie können mindestens drei Stunden täglich arbeiten.
• Ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.
• bedürftig sind, sprich: Ihr Einkommen und Vermögen reichen nicht aus, um Ihren Lebensunterhalt und den Ihrer Bedarfsgemeinschaft zu sichern.

2. Die Berechnung Ihres Bedarfs

Ihr monatlicher Bedarf setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen:

• Regelbedarf: Dieser deckt Kosten für Ernährung, Kleidung, Haushaltsenergie, Körperpflege, Hausrat und die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben ab. Die Höhe hängt von Ihrem Alter und Ihrer Rolle in der Bedarfsgemeinschaft ab (z.B. Alleinstehender, Partner, Kind).
  
  Beispiel (Stand 2024): Alleinstehende Person: 563 Euro.
• Mehrbedarfe: In bestimmten Lebenslagen können Sie zusätzliche Leistungen erhalten, z.B. für Schwangerschaft, Alleinerziehung, dezentrale Warmwassererzeugung, chronische Krankheiten oder für Menschen mit Behinderung.
• Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU): Die Jobcenter übernehmen die tatsächlichen Kosten für Miete, Nebenkosten und Heizung, sofern sie „angemessen“ sind. Die Angemessenheit wird von der jeweiligen Kommune festgelegt und hängt von der Personenanzahl, der Wohnungsgröße und dem lokalen Mietspiegel ab.

Gesamtbedarf = Regelbedarf + Mehrbedarfe + Kosten der Unterkunft und Heizung

3. Die Anrechnung Ihres Einkommens und Vermögens – Die Freibeträge sind entscheidend!

Von Ihrem Gesamtbedarf wird Ihr anzurechnendes Einkommen abgezogen. Hier kommen die wichtigen Freibeträge ins Spiel, die Arbeit attraktiv machen:

• Grundfreibetrag: Die ersten 100 Euro Ihres Bruttoeinkommens (aus Arbeit, Selbstständigkeit, Ausbildung) sind grundsätzlich anrechnungsfrei.
• Zusätzliche Freibeträge:
  • Von 101 bis 1.000 Euro Bruttoeinkommen bleiben 20 Prozent anrechnungsfrei.
  • Von 1.001 bis 1.200 Euro Bruttoeinkommen (bei Haushalten mit mindestens einem Kind oder Jugendlichen bis 25 Jahre bis 1.500 Euro Bruttoeinkommen) bleiben weitere 10 Prozent anrechnungsfrei.
• Pauschalen und Absetzbeträge: Neben diesen Freibeträgen können auch Kosten wie Werbungskosten (z.B. Fahrtkosten zur Arbeit), gesetzlich vorgeschriebene Versicherungen (z.B. Riester-Rente bis zu einem bestimmten Betrag) oder Beiträge zur privaten Altersvorsorge von Ihrem Einkommen abgezogen werden, bevor es angerechnet wird.

Rechenbeispiel für Freibeträge (Angaben vereinfacht):
Eine alleinstehende Person hat ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.000 Euro.
1. Die ersten 100 Euro sind frei: 100 Euro.
2. Vom Betrag zwischen 101 und 1.000 Euro (also 900 Euro) sind 20% frei: 900 Euro * 0,20 = 180 Euro.

Insgesamt sind in diesem Beispiel 100 Euro + 180 Euro = 280 Euro vom Einkommen anrechnungsfrei. Das bedeutet, nur 1.000 Euro – 280 Euro = 720 Euro werden auf den Bedarf angerechnet. Dies zeigt deutlich: Es lohnt sich immer, mehr zu arbeiten, da Sie von jedem zusätzlichen verdienten Euro einen Großteil behalten dürfen!

Vermögen: Auch Ihr Vermögen wird berücksichtigt, jedoch gibt es hier ebenfalls Schonbeträge. In der 12-monatigen Karenzzeit wird nur erhebliches Vermögen (über 40.000 Euro für die erste Person der Bedarfsgemeinschaft, je weitere 15.000 Euro) berücksichtigt. Danach gelten geringere Schonbeträge (15.000 Euro pro Person).

Die Differenz zwischen Ihrem Gesamtbedarf und Ihrem anzurechnenden Einkommen (plus eventuell vorhandenem anzurechnendem Vermögen) ist die Höhe des Bürgergeldes, das Sie erhalten.

Welche Vorteile bietet das Aufstocken mit Bürgergeld?

Das Aufstocken mit Bürgergeld ist kein Makel, sondern eine notwendige und sinnvolle Unterstützung, die Ihnen mehrere Vorteile bietet:

• Sicherung des Existenzminimums: Es gewährleistet, dass Sie und Ihre Familie grundlegende Bedürfnisse wie Essen, Wohnen und Kleidung decken können.
• Erhalt der Beschäftigung: Sie können Ihren Job behalten und Ihre Arbeitserfahrung weiter ausbauen, auch wenn das Gehalt allein nicht reicht. Dies ist wichtig für Ihre langfristige Integration in den Arbeitsmarkt.
• Zugang zu weiteren Leistungen: Als Bürgergeld-Empfänger haben Sie Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für Ihre Kinder (z.B. Kosten für Klassenfahrten, Nachhilfe, Sportvereine), auf einen Sozialpass (oft für Vergünstigungen bei Kultur- und Freizeitangeboten) und können von der Rundfunkbeitragspflicht befreit werden.
• Förderung von Qualifizierung: Das Bürgergeld-System bietet gezielte Unterstützung für Weiterbildungen und Qualifizierungen, die Ihnen helfen können, langfristig ein höheres Einkommen zu erzielen und unabhängiger zu werden.
• Weniger finanzielle Sorgen: Die Unterstützung durch das Bürgergeld kann erheblichen Druck von Ihnen nehmen und Ihnen ermöglichen, sich auf Ihre Arbeit und Ihre Familie zu konzentrieren, anstatt ständig um die nächste Rechnung zu bangen.

Häufige Fragen und Mythen zum Aufstocken

Rund um das Thema „Arm trotz Arbeit” und Sozialleistungen kursieren viele Vorurteile und Missverständnisse. Hier einige Klarstellungen:

Mythos 1: „Arbeit lohnt sich doch nicht, wenn man sowieso aufstocken muss.“
Fakt: Das stimmt nicht! Dank der erhöhten Freibeträge im Bürgergeld behalten Sie von jedem zusätzlich verdienten Euro einen größeren Anteil. Jeder Euro, den Sie mehr verdienen, führt dazu, dass Sie auch unterm Strich mehr Geld zur Verfügung haben. Das Bürgergeld ist immer nur ein Zuschuss, um die Lücke zu schließen, aber es ersetzt nie Ihr komplettes Einkommen.

Mythos 2: „Wer arbeitet und Sozialleistungen bekommt, ist ein Schmarotzer.“
Fakt: Diese Behauptung ist falsch und unfair. Aufstocker leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft, sei es in Pflegeberufen, im Einzelhandel oder anderen Bereichen. Die Notwendigkeit der Aufstockung liegt oft an strukturellen Problemen wie Niedriglöhnen und hohen Lebenshaltungskosten, nicht an mangelnder Arbeitsbereitschaft. Das Bürgergeld ist ein Recht, das jedem zusteht, der bedürftig ist.

Mythos 3: „Das Jobcenter mischt sich zu sehr in mein Leben ein.“
Fakt: Das Jobcenter hat die Aufgabe, Sie bei der Überwindung der Hilfebedürftigkeit zu unterstützen. Dazu gehören auch Beratungen zur Arbeitsvermittlung und Qualifizierung. Mit dem Bürgergeld wurde der Fokus stärker auf Kooperation gelegt. Ihre Rechte und Pflichten sind klar im Gesetz verankert. Eine enge Zusammenarbeit ist oft im eigenen Interesse, um die bestmögliche Unterstützung zu erhalten.

Mythos 4: „Ich muss Angst haben, meinen Job zu verlieren, wenn ich Bürgergeld beantrage.“
Fakt: Nein, Ihr Arbeitgeber erfährt in der Regel nicht, dass Sie Bürgergeld beziehen, es sei denn, Sie teilen es ihm mit. Der Bezug von Sozialleistungen hat keine direkten Auswirkungen auf Ihr Arbeitsverhältnis. Es ist eine private Angelegenheit zwischen Ihnen und dem Jobcenter.

Tipps für Aufstocker und solche, die es werden könnten

Wenn Sie überlegen, Bürgergeld zu beantragen oder bereits beziehen, beachten Sie folgende Ratschläge:

• Informieren Sie sich umfassend: Nutzen Sie die Webseiten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Bundesagentur für Arbeit oder unabhängige Beratungsstellen.
• Stellen Sie den Antrag vollständig und wahrheitsgemäß: Sammeln Sie alle notwendigen Unterlagen (Einkommensnachweise, Mietvertrag, Kontoauszüge etc.). Eine präzise und vollständige Antragstellung beschleunigt die Bearbeitung.
• Verstehen Sie die Freibeträge: Nehmen Sie sich die Zeit, die Anrechnungsregeln für Ihr Einkommen zu verstehen. Das hilft Ihnen zu erkennen, wie viel Geld Ihnen tatsächlich vom Job bleibt.
• Dokumentieren Sie alles: Heben Sie Kopien aller Anträge, Bescheide und Schriftwechsel mit dem Jobcenter auf. Notieren Sie sich Namen von Ansprechpartnern und Daten von Gesprächen.
• Melden Sie Änderungen umgehend: Jede Änderung Ihrer Einkommens-, Vermögens- oder Wohnsituation (z.B. Jobwechsel, Mieterhöhung, Umzug, Geburt eines Kindes) muss dem Jobcenter sofort mitgeteilt werden. Sonst kann es zu Rückforderungen kommen.
• Nutzen Sie Beratungsangebote: Sozialberatungsstellen, Wohlfahrtsverbände oder Anwälte für Sozialrecht können Ihnen bei komplexen Fragen oder Problemen mit dem Jobcenter helfen.
• Sprechen Sie über Ihre Situation: Scheuen Sie sich nicht, mit Vertrauenspersonen oder anderen Betroffenen über Ihre Lage zu sprechen. Das Wissen, nicht allein zu sein, kann entlasten.
• Bleiben Sie aktiv bei der Jobsuche/Qualifizierung: Auch wenn Sie einen Job haben, kann eine Weiterbildung oder eine Qualifizierung Ihre Chancen auf ein höheres Einkommen und damit auf eine Verringerung oder Beendigung der Hilfebedürftigkeit erhöhen. Das Jobcenter kann Sie hierbei unterstützen.
• Prüfen Sie Ihre Bescheide: Bescheide des Jobcenters sind komplex. Prüfen Sie genau, ob alle Angaben stimmen und alle Abzüge korrekt berücksichtigt wurden. Bei Unsicherheiten suchen Sie Rat bei einer unabhängigen Beratungsstelle. Sie haben das Recht auf Widerspruch, wenn Sie mit einem Bescheid nicht einverstanden sind.

Fazit: Bürgergeld – eine Brücke, kein Makel

Die Realität, trotz Arbeit nicht genug zum Leben zu haben, ist für viele Menschen in Deutschland eine harte Belastung. Das Bürgergeld ist in diesem Kontext keine „Belohnung“ für Nichtstun, sondern ein grundlegendes Sicherungssystem, das Menschen wie Ihnen – den Aufstockern – hilft, das Existenzminimum zu sichern und gleichzeitig weiterhin am Arbeitsleben teilzuhaben. Es ist eine Brücke, die Ihnen Stabilität geben soll, während Sie vielleicht nach besseren beruflichen Perspektiven suchen oder Ihre Situation aus anderen Gründen (z.B. Familie, Gesundheit) nicht eigenständig bewältigen können.

Scheuen Sie sich nicht, diese Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Es ist Ihr gutes Recht. Informieren Sie sich, nutzen Sie die Möglichkeiten der Freibeträge und der Qualifizierung, und sehen Sie das Bürgergeld als das, was es sein soll: eine Hilfe zur Selbsthilfe auf dem Weg zu mehr finanzieller Unabhängigkeit.