Die Frage, ob man als Bürgergeld-Empfänger bei Lieferando Essen bestellen darf, mag für viele auf den ersten Blick absurd, provokant oder gar anmaßend klingen. Sie ist jedoch weit verbreitet und spiegelt oft eine tiefe Verunsicherung, gesellschaftliche Vorurteile oder schlichtweg Unwissenheit über die Realitäten des Lebens mit Sozialleistungen wider. Es ist ein Thema, das Emotionen weckt und in den sozialen Medien immer wieder zu hitzigen Debatten führt. Fest steht: Es gibt keine Regel, kein Gesetz, das Ihnen das Bestellen von Essen bei einem Lieferdienst verbietet, nur weil Sie Bürgergeld beziehen. Die rechtliche Antwort ist also ein klares: Ja, Sie dürfen! Doch die Realität ist vielschichtiger als ein einfaches Ja oder Nein. Es geht nicht nur um das formale Dürfen, sondern vielmehr um das tatsächliche Können und die damit verbundenen gesellschaftlichen Wahrnehmungen.
Die rechtliche Perspektive: Warum Sie dürfen
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen und dem rechtlichen Rahmen: Sie erhalten Ihr Bürgergeld als Geldleistung, nicht in Form von Sachleistungen oder zweckgebundenen Gutscheinen, die Sie nur für bestimmte Produkte oder Dienstleistungen einlösen können. Das System des Bürgergeldes, wie zuvor Hartz IV, basiert auf dem Prinzip der Pauschalierung und der Eigenverantwortung. Das Jobcenter schreibt Ihnen nicht detailliert vor, was Sie essen, wo Sie einkaufen oder wie Sie Ihre Freizeit gestalten. Innerhalb des gesetzlich festgelegten Regelsatzes haben Sie die Freiheit, Ihre Ausgaben nach eigenem Ermessen zu tätigen. Dieses Prinzip ist ein Grundpfeiler des Sozialstaats und soll die Würde des Einzelnen wahren.
Der Gesetzgeber hat bewusst auf eine detaillierte Kontrolle der Ausgaben verzichtet, da dies einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre darstellen und einen enormen bürokratischen Aufwand verursachen würde. Stattdessen wird ein pauschaler Betrag gezahlt, der das Existenzminimum abdecken soll. Dies schließt selbstverständlich auch die Entscheidung ein, ob Sie Ihr Essen im Supermarkt kaufen und selbst zubereiten oder ob Sie sich eine Mahlzeit liefern lassen. Ein spezifisches Verbot von Lieferando-Bestellungen oder ähnlichen Diensten existiert schlichtweg nicht und wäre auch verfassungsrechtlich fragwürdig. Wer Ihnen das Gegenteil weismachen will, verbreitet Unwahrheiten oder lässt sich von unbegründeten Vorurteilen leiten.
Die finanzielle Realität: Warum es schwierig ist
Die rechtliche Freiheit ist das eine, die finanzielle Realität eine ganz andere. Hier wird die Frage nach dem ‘Können’ relevant, und hier zeigt sich, warum eine Lieferando-Bestellung für die meisten Bürgergeld-Empfänger keine alltägliche Angelegenheit sein kann. Der Bürgergeld-Regelsatz ist darauf ausgelegt, das Existenzminimum zu sichern. Er deckt pauschal Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Strom und Wasser (nicht Heizung und Miete), Kommunikation, Bildung und Freizeit ab. Die Kosten für Unterkunft und Heizung (Kaltmiete, Nebenkosten, Heizkosten) werden in der Regel separat übernommen, sofern sie angemessen sind und die sogenannte ‘Angemessenheitsprüfung’ des Jobcenters bestehen.
Für einen alleinstehenden Erwachsenen beträgt der Regelsatz im Jahr 2024 **563 Euro** pro Monat. Dieser Betrag muss alle persönlichen Ausgaben außer der Kaltmiete, Heizung und Warmwasser abdecken. Innerhalb dieses Betrags ist ein fester Anteil für Ernährung vorgesehen. Schauen wir uns die Aufschlüsselung an, die der Gesetzgeber zugrunde legt, basierend auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes und der Systematik des Existenzminimums:
- Von den 563 Euro sind laut der Statistik und der darauf basierenden Berechnungen des Regelsatzes ungefähr 165 bis 170 Euro für den Bereich ‘Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren’ vorgesehen.
- Das entspricht einem durchschnittlichen Tagesbudget von etwa 5,50 bis 5,70 Euro für sämtliche Mahlzeiten – Frühstück, Mittagessen, Abendessen und eventuelle Snacks. Dieser Betrag muss zudem nicht nur Lebensmittel abdecken, sondern auch Getränke.
- Rechnet man es auf eine einzelne Mahlzeit herunter, bleiben im Schnitt deutlich weniger als 2 Euro pro Mahlzeit, um sich ausgewogen und satt ernähren zu können.
Vergleichen Sie dies nun mit den Kosten einer typischen Lieferando-Bestellung. Ein durchschnittliches Gericht wie eine Pizza, ein Burger oder ein asiatisches Nudelgericht kostet schnell 10 bis 15 Euro. Dazu kommen in der Regel Liefergebühren (oft zwischen 2 und 4 Euro), eine Servicegebühr (meist um 0,50 Euro) und nicht selten ein Mindestbestellwert, der eine Einzelbestellung zusätzlich verteuert. Eine einzige Bestellung kann somit leicht zwischen 15 und 25 Euro liegen. Es wird schnell offensichtlich: Eine einzelne Lieferando-Bestellung kann das gesamte Tagesbudget für Essen um das Drei- bis Fünffache übersteigen oder sogar einen Großteil des wöchentlichen Lebensmittelbudgets aufzehren. Dies verdeutlicht die immense finanzielle Belastung, die eine solche Ausgabe für Bürgergeld-Empfänger darstellt.
Gelegentliche Ausnahme statt Regelmäßigkeit
Niemand, der langfristig von Bürgergeld lebt, wird sich regelmäßig über einen Lieferdienst versorgen können, ohne an anderer Stelle massive Abstriche machen zu müssen – etwa bei Hygieneartikeln, Kleidung, oder indem er sich gänzlich von billigsten Grundnahrungsmitteln ernährt. Es ist schlichtweg nicht finanzierbar. Wenn also jemand, der Bürgergeld bezieht, eine Bestellung bei Lieferando aufgibt, handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine seltene Ausnahme, eine besondere Belohnung oder eine Geste der Verzweiflung nach einem besonders anstrengenden Tag.
Es könnte ein Geburtstagsgeschenk an sich selbst sein, eine Belohnung für das Überstehen einer schwierigen Situation, eine kleine Feier mit Freunden, die ebenfalls am Existenzminimum leben, oder einfach der Wunsch, sich nach Wochen oder Monaten des knappen Budgets und des sorgfältigen Kochens einmal etwas zu gönnen. Jeder Mensch, unabhängig von seinem Einkommen, hat das Bedürfnis nach kleinen Freuden, nach Entlastung und nach Momenten der Normalität. Ein geliefertes Essen kann ein wichtiger Akt der Selbstfürsorge sein, der nicht verurteilt werden sollte. Es ist ein Zeichen dafür, dass man sich trotz aller Widrigkeiten nicht völlig aufgibt.
Umgang mit öffentlichen Vorurteilen und Empörung
Die öffentliche Wahrnehmung ist oft von tiefsitzenden Vorurteilen geprägt. Bilder von Bürgergeld-Empfängern, die sich angeblich ‘Luxus’ leisten, werden gerne medial ausgeschlachtet und in sozialen Netzwerken verbreitet, um ein Zerrbild zu erzeugen und die Sozialneid-Debatte anzuheizen. Doch was ist Luxus? Eine Pizza einmal im Monat? Ein Kaffee to go? Ein Besuch im Schwimmbad? Für viele Menschen mit geringem Einkommen sind das bereits kleine Luxusgüter, die nur mit sorgfältiger Budgetplanung und Verzicht an anderer Stelle möglich sind. Diese Debatten lenken oft von den eigentlichen Problemen ab, nämlich der Angemessenheit des Existenzminimums und der Armut in Deutschland.
Es ist wichtig zu verstehen: Menschen, die Sozialleistungen beziehen, sind keine Bürger zweiter Klasse. Sie haben dieselben Grundrechte, dieselbe Würde und dieselben Bedürfnisse wie jeder andere auch. Eine Lieferando-Bestellung ist kein Indiz für mangelnde Sparsamkeit, Ausnutzung des Systems oder gar Faulheit, sondern kann ein Zeichen dafür sein, dass jemand sich trotz widriger Umstände einen kleinen Moment der Normalität und Freude gönnt. Die Vorstellung, dass jeder Cent auf Heller und Pfennig für das Nötigste ausgegeben werden muss und keinerlei Spielraum für individuelle Entscheidungen oder kleine Freuden bleiben darf, ist zutiefst menschenverachtend und ignoriert die psychische Belastung, die mit chronischem Geldmangel und gesellschaftlicher Stigmatisierung einhergeht. Armut ist ein systemisches Problem, nicht die Schuld des Einzelnen.
Praktische Tipps für die Haushaltsführung mit Bürgergeld
Für Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, ist eine kluge und disziplinierte Haushaltsführung von entscheidender Bedeutung. Das bedeutet oft, kreative Wege zu finden, um den Alltag zu meistern und trotzdem nicht völlig auf kleine Freuden verzichten zu müssen. Hier einige Tipps, die nicht nur für Bürgergeld-Empfänger, sondern für jeden mit knappem Budget hilfreich sein können:
- Kochen statt Bestellen: Die kostengünstigste Variante ist und bleibt das selbst Zubereiten von Mahlzeiten. Mit etwas Planung, Grundrezepten und dem Einkauf von saisonalen und regionalen Produkten lassen sich leckere und gesunde Gerichte zubereiten, die deutlich günstiger sind als Fertigprodukte oder Lieferdienste. Kochen in größeren Mengen („Meal Prep”) kann zusätzlich Zeit und Geld sparen.
- Essensplanung und Einkaufsliste: Überlegen Sie sich im Voraus, was Sie die Woche über essen möchten, und erstellen Sie eine genaue Einkaufsliste. Das hilft, Impulskäufe zu vermeiden und gezielt Angebote zu nutzen. Halten Sie sich diszipliniert an Ihre Liste.
- Angebote nutzen und Preise vergleichen: Schauen Sie in Prospekten nach Sonderangeboten und vergleichen Sie die Preise in verschiedenen Supermärkten oder Discountern. Produkte der Eigenmarken sind oft um ein Vielfaches günstiger als Markenartikel und qualitativ meist völlig ausreichend. Achten Sie auch auf reduzierte Ware mit kurzem Mindesthaltbarkeitsdatum.
- Lebensmittel retten und Tafeln nutzen: Plattformen wie ‘Too Good To Go’ oder ‘ResQ Club’ ermöglichen es, überschüssige Lebensmittel von Restaurants, Bäckereien oder Supermärkten zu stark reduzierten Preisen zu retten. Für viele eine wichtige Stütze sind die Tafeln, die kostenlos oder gegen einen geringen symbolischen Betrag Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Scheuen Sie sich nicht, diese Angebote zu nutzen – sie sind genau dafür da.
- Großpackungen und Vorratshaltung: Grundnahrungsmittel wie Nudeln, Reis, Hülsenfrüchte (Linsen, Bohnen), Mehl, Zucker, Salz oder Öl sind in größeren Mengen oft günstiger. Eine gut sortierte Vorratskammer hilft, spontane und teure Einkäufe zu vermeiden und ist eine Absicherung, falls das Geld zum Monatsende knapp wird.
- Wasser statt teurer Getränke: Leitungswasser ist in Deutschland von hervorragender Qualität, sicher und kostet fast nichts. Verzichten Sie auf teure Softdrinks, Säfte oder Mineralwasser, um das Getränkebudget zu entlasten. Ein Schuss Zitrone oder Gurke kann für Abwechslung sorgen.
- Kleines Sparschwein für ‘Extras’: Wenn Sie sich ab und zu etwas Besonderes gönnen möchten, können Sie ein kleines Sparschwein einrichten und Kleingeld oder Restbeträge beiseitelegen. Selbst 50 Cent am Tag können über die Zeit zu einem kleinen Polster anwachsen, das für eine gewünschte Ausgabe genutzt werden kann, sei es eine Lieferando-Bestellung, ein Kinobesuch oder eine andere kleine Freude.
- Finanzberatung nutzen: Bei chronischen Geldsorgen, Überschuldung oder dem Gefühl, den Überblick zu verlieren, kann eine kostenlose Schuldnerberatung oder der Austausch mit dem Jobcenter zu Möglichkeiten der Unterstützung (z.B. Mehrbedarfe bei bestimmten Krankheiten, Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder) sehr hilfreich sein.
Die psychische Belastung der Armut
Das ständige Gefühl des Mangels, der Verzicht auf scheinbar alltägliche Dinge und die soziale Stigmatisierung können auf Dauer zermürbend sein. Die psychische Belastung durch finanzielle Unsicherheit ist enorm und wird oft unterschätzt. Depressionen, Angstzustände und sozialer Rückzug sind häufige Folgen chronischer Armut. Ein kleiner Moment des Genusses, der von anderen als selbstverständlich angesehen wird – sei es eine gelieferte Pizza, ein Besuch im Café oder ein neues T-Shirt – kann für jemanden, der am Existenzminimum lebt, eine wichtige Stütze sein, um nicht den Mut zu verlieren, die eigene Würde zu bewahren und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Es ist ein notwendiger Ausgleich im oft kargen Alltag.
Fazit: Menschlichkeit statt Vorverurteilung
Zusammenfassend lässt sich sagen: Ja, als Bürgergeld-Empfänger dürfen Sie rechtlich uneingeschränkt bei Lieferando Essen bestellen. Es gibt kein Gesetz, das Ihnen das verbietet. Die entscheidende Frage ist jedoch die finanzielle Machbarkeit und die bewusste Entscheidung, die damit verbundenen Kosten in Kauf zu nehmen. Angesichts des knappen Regelsatzes für Ernährung ist eine solche Bestellung in der Regel eine seltene Ausnahme und keine Regelmäßigkeit.
Es ist ein Zeichen dafür, dass Menschen auch mit geringem Einkommen das Bedürfnis nach einer kleinen Auszeit, einer Belohnung oder einfach nur Bequemlichkeit haben – Bedürfnisse, die jedem Menschen zustehen. Anstatt mit moralischer Empörung zu reagieren oder vorschnelle Urteile zu fällen, sollten wir uns bewusst machen, dass Bürgergeld-Empfänger Teil unserer Gesellschaft sind und dieselbe Achtung und Würde verdienen wie jeder andere auch. Eine einzelne Lieferando-Bestellung ist kein Zeichen für Verschwendung oder das Ausnutzen des Sozialstaats, sondern oft ein stiller Ausdruck des Wunsches nach einem Funken Normalität und einem Moment der Entlastung in einem finanziell oft sehr kargen und psychisch belastenden Alltag.
Es ist an der Zeit, die Debatte um Sozialleistungen weniger emotional und vorurteilsvoll, sondern faktenbasiert und empathisch zu führen. Jeder Cent des Bürgergeldes wird von den Empfängern genau kalkuliert, und jede Ausgabe hat ihren Preis. Respekt und Verständnis sind hier wichtiger als unbegründete Anschuldigungen.