Die Welt der Rollenspiele ist riesig und ständig im Wandel. Während neue, grafisch beeindruckende Titel die Bühne betreten, gibt es immer wieder Klassiker, die eine zweite oder sogar dritte Welle der Aufmerksamkeit erfahren. Tales of Vesperia: Definitive Edition für die Nintendo Switch ist ein solches Spiel. Ursprünglich 2008 in Japan für die Xbox 360 veröffentlicht, fand es später seinen Weg auf PlayStation 3 (Japan-exklusiv) und schließlich, zehn Jahre später, als remasterte und erweiterte Version weltweit auf alle gängigen Plattformen – inklusive der Nintendo Switch. Die Frage, die sich Fans und Neulinge gleichermaßen stellen, ist: Ist dieses JRPG auch heute, im Jahr 2024, noch eine lohnende Investition und ein Spiel, das man in seiner Sammlung haben muss?
Dieser Artikel wirft einen kritischen Blick auf Tales of Vesperia, seine Stärken, Schwächen und wie es sich auf Nintendos Hybridkonsole schlägt. Wir werden untersuchen, ob der Charme und die Tiefe des Spiels die Zeit überdauert haben und ob es den heutigen Ansprüchen an ein modernes Rollenspiel noch gerecht wird.
Ein zeitloser Charme: Die Geschichte und Charaktere
Einer der unbestreitbar größten Pluspunkte von Tales of Vesperia ist seine Geschichte und sein Ensemble an Charakteren. Die Handlung dreht sich um Yuri Lowell, einen zynischen, aber im Grunde gutherzigen ehemaligen Ritter, der sich von den starren Regeln der Gesellschaft losgesagt hat und seinen eigenen Weg der Gerechtigkeit geht. Seine Reise beginnt mit der Verfolgung eines Diebes und entwickelt sich schnell zu einer epischen Saga, die Politik, Magie, Umweltzerstörung und das Schicksal einer ganzen Welt, Terca Lumireis, umfasst.
Was Vesperia besonders macht, ist nicht nur die Hauptfigur, sondern die gesamte Gruppe. Vom naiven, aber entschlossenen Estelle bis zum intellektuellen, aber sozialen Raven, dem charmanten Karol und der geheimnisvollen Judith – jeder Charakter ist einzigartig, gut geschrieben und trägt maßgeblich zur Dynamik der Gruppe bei. Die Beziehungen untereinander entwickeln sich organisch, oft durch charmante und humorvolle „Skits” (kurze, optionale Dialogsequenzen), die dem Spiel eine unglaubliche Persönlichkeit verleihen. Diese Skits sind das Herzstück der Charakterentwicklung und des World Building und sorgen dafür, dass man die Gruppe schnell ins Herz schließt.
Die Themen, die das Spiel behandelt, sind erstaunlich relevant geblieben: Gerechtigkeit und Gesetz, die Frage, wann das eine dem anderen weichen muss, der Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung. Yuri ist ein Anti-Held, dessen Methoden oft fragwürdig sind, dessen Motive aber immer nachvollziehbar bleiben. Diese Ambivalenz hebt Tales of Vesperia von vielen anderen JRPGs ab, die oft klarere Linien zwischen Gut und Böse ziehen. Die englische Sprachausgabe ist solide, mit einigen herausragenden Leistungen, während die japanische Originalfassung für Puristen ebenfalls verfügbar ist.
Gameplay, das Strategie und Action verbindet
Das Kampfsystem von Tales of Vesperia ist eine Weiterentwicklung des traditionellen „Linear Motion Battle System” der Reihe. Es kombiniert Echtzeit-Action mit strategischen Elementen. Spieler steuern einen Charakter direkt im Kampf, während die anderen Gruppenmitglieder von einer KI gesteuert oder über detaillierte Taktikbefehle beeinflusst werden können. Das System ist dynamisch und belohnt Kombos, Positionierung und den geschickten Einsatz von „Artes” (Spezialfähigkeiten).
Besondere Mechaniken wie die „Fatal Strikes” (Möglichkeit, geschwächte Gegner sofort zu besiegen) und die „Over Limit”-Modi (kurzzeitige Steigerung der Fähigkeiten) fügen dem Kampf zusätzliche Ebenen hinzu. Auf den ersten Blick mag das System einfach erscheinen, aber es bietet eine erhebliche Tiefe, die besonders auf höheren Schwierigkeitsgraden oder gegen optionale Bosse zum Tragen kommt. Es erfordert ein gutes Verständnis der Fähigkeiten der eigenen Charaktere und der Schwächen der Gegner. Dies sorgt für motivierende und oft herausfordernde Kämpfe, die man nicht einfach nur durch Button-Mashing gewinnen kann.
Abseits der Kämpfe bietet Vesperia eine Weltkarte, Dungeons und Städte, die es zu erkunden gilt. Die Dungeons sind klassisch, mit Rätseln und versteckten Schätzen, wenn auch manchmal etwas langatmig. Das Crafting-System, bei dem man Ausrüstung durch Materialien verbessert, und die Möglichkeit, neue Fertigkeiten durch das Ausrüsten von Waffen zu erlernen, bieten zusätzliche Anreize zum Grinden und Experimentieren.
Die Nintendo Switch-Erfahrung: Portabilität und Performance
Die Definitive Edition auf der Nintendo Switch bietet einige Vorteile, aber auch ein paar Kompromisse. Der größte Pluspunkt ist zweifellos die Portabilität. Ein komplexes und langes JRPG wie Vesperia unterwegs spielen zu können, ist ein Segen. Ob im Zug, im Flugzeug oder einfach auf der Couch – die Möglichkeit, das Abenteuer jederzeit fortzusetzen, ist für viele Spieler ein entscheidendes Kaufargument. Die Steuerung mit den Joy-Cons oder einem Pro Controller funktioniert reibungslos, und das Kampfsystem lässt sich gut adaptieren.
In puncto Performance schneidet die Switch-Version ordentlich ab, wenn auch mit den üblichen Einschränkungen im Vergleich zu leistungsstärkeren Konsolen. Im Handheld-Modus läuft das Spiel in der Regel mit einer Auflösung von 720p und strebt 30 FPS an, die größtenteils gehalten werden. Im Docked-Modus erreicht es 1080p, ebenfalls meist bei 30 FPS. Es gibt gelegentlich kleinere Framerate-Einbrüche in sehr effektreichen Kämpfen oder belebten Stadtgebieten, aber diese sind selten spielentscheidend und beeinträchtigen das Gesamterlebnis kaum. Die Ladezeiten sind akzeptabel und fallen nicht negativ ins Gewicht. Die Grafik im Anime-Stil hält sich auch heute noch gut und profitiert von der scharfen Darstellung auf dem Switch-Bildschirm.
Kritische Aspekte: Was könnte stören?
Trotz all seiner Stärken ist Tales of Vesperia nicht perfekt und zeigt an einigen Stellen sein Alter, insbesondere im Vergleich zu modernen JRPGs. Hier sind einige Punkte, die potenzielle Käufer beachten sollten:
- Pacing am Anfang: Das Spiel hat einen relativ langsamen Start. Es nimmt sich Zeit, seine Charaktere und die Welt vorzustellen, was für manche ungeduldige Spieler frustrierend sein könnte. Die epische Reise entfaltet sich erst nach vielen Stunden.
- Grafik & Umgebungsdetails: Obwohl der Cel-Shading-Stil zeitlos ist und die Charaktere hervorragend aussehen, sind die Umgebungen, insbesondere ältere Dungeons und die Weltkarte, manchmal etwas karg und repetitiv gestaltet. Hier merkt man, dass das Spiel ursprünglich für die Xbox 360 entwickelt wurde.
- Kampfschwierigkeit und Lernkurve: Während das Kampfsystem tiefgründig ist, kann es für Neulinge der Tales-Reihe anfangs überwältigend wirken. Das Spiel erklärt nicht immer alle Nuancen des Systems ausführlich, und es erfordert etwas Experimentieren, um seine volle Effizienz zu entfalten. Das Grinding für Materialien und Level-Ups kann auf höheren Schwierigkeitsgraden notwendig sein, ist aber nicht übermäßig aufdringlich.
- Qualität der Sidequests: Die Nebenquests sind oft Fetch-Quests oder „töte X Gegner”-Aufgaben, die nicht immer so spannend sind wie die Hauptgeschichte oder die optionalen Skits. Hier haben sich modernere JRPGs oft weiterentwickelt.
- Sounddesign: Die Musik von Motoi Sakuraba ist wie gewohnt hervorragend und prägt die Atmosphäre. Allerdings sind einige Soundeffekte und insbesondere bestimmte Kampfschreie der Charaktere mit der Zeit etwas repetitiv.
Lohnt sich der Kauf heute noch? Ein Fazit
Nach einer detaillierten Betrachtung lässt sich sagen: Ja, Tales of Vesperia: Definitive Edition auf der Nintendo Switch ist den Kauf auch heute noch absolut wert. Es ist ein herausragendes JRPG, das auch nach all den Jahren mit seiner fesselnden Geschichte, den charismatischen Charakteren und einem tiefgründigen Kampfsystem überzeugt.
Für Fans der Tales-Reihe ist es ein Muss, insbesondere wenn sie die originale Xbox 360-Version nicht gespielt oder die zusätzlichen Inhalte der PS3-Version verpasst haben (die Definitive Edition enthält alle Inhalte der PS3-Version, einschließlich neuer Charaktere und Quests). Für Neulinge, die ein klassisches, storygetriebenes Rollenspiel mit Fokus auf Charakterentwicklung und Echtzeit-Kämpfen suchen, ist Vesperia eine exzellente Wahl.
Die Portabilität der Switch-Version ist ein riesiger Bonus, der es ermöglicht, dieses umfangreiche Abenteuer in kleinen Dosen oder auf langen Reisen zu genießen. Die visuellen Mängel älterer Umgebungen sind angesichts des zeitlosen Art-Stils und der hervorragenden Charaktermodelle leicht zu verschmerzen. Der langsame Start mag etwas Geduld erfordern, aber die Belohnung ist eine der besten Geschichten und Charaktersammlungen, die das JRPG-Genre zu bieten hat.
Wer über die genannten kleineren Schwächen hinwegsehen kann und ein klassisches, charmantes und strategisch anspruchsvolles Rollenspiel sucht, das Hunderte von Stunden Spielspaß bietet, der sollte Tales of Vesperia: Definitive Edition definitiv eine Chance geben. Es beweist eindrucksvoll, dass gute Geschichten und Charaktere tatsächlich zeitlos sind und auch ein Jahrzehnt später noch begeistern können. Der Preis ist oft auch schon gesunken, was den Einstieg noch attraktiver macht. Ein Kauf, den man nicht bereuen wird.