Die Veröffentlichung von Pokémon Karmesin & Purpur im November 2022 war von immenser Vorfreude begleitet. Nach jahrelangen Forderungen der Fans versprach Game Freak, der Entwickler hinter der ikonischen Reihe, einen echten Open-World-Ansatz für die neunte Generation der Pokémon-Spiele. Die Erwartungen waren hoch: Eine völlig neue Region, Paldea, die es frei zu erkunden galt, frische Gameplay-Mechaniken und natürlich eine Schar neuer Pokémon. Doch kaum waren die Spiele auf dem Markt, spalteten sie die Fangemeinde wie kaum ein anderer Titel zuvor. War Pokémon Karmesin & Purpur der lang ersehnte, geniale Neustart, der die Pokémon-Formel revolutionierte, oder eine technische Enttäuschung, die die Ambitionen der Entwickler überstrahlte?
Die strahlende Vision: Ein genialer Neustart
Für viele ist Pokémon Karmesin & Purpur trotz seiner Mängel ein triumphales Experiment und ein mutiger Schritt in die richtige Richtung. Die Gründe dafür sind vielfältig und liegen vor allem im Kerndesign und den Gameplay-Innovationen.
Die Freiheit Paldeas: Eine echte Open World
Der größte und unbestreitbarste Erfolg von Karmesin & Purpur ist die Implementierung einer wahren Open World. Zum ersten Mal in der Geschichte der Hauptreihe gibt es keine linearen Pfade mehr, keine unsichtbaren Wände, die den Spieler auf vordefinierte Routen zwingen. Von der ersten Minute an kann man sich auf sein legendäres Reit-Pokémon schwingen und Paldea in beliebiger Reihenfolge erkunden. Ob man zuerst die acht Arenaleiter herausfordert, die mysteriösen Herrscher-Pokémon aufsucht oder sich den Team Star-Basen widmet – die Entscheidung liegt ganz beim Spieler. Diese beispiellose Freiheit verändert das Spielgefühl grundlegend. Es fühlt sich an wie ein echtes Abenteuer, bei dem man zufällig auf neue Pokémon stößt, versteckte Gebiete entdeckt und seine eigene Geschichte in Paldea schreibt. Das Erforschen wird belohnt und die Welt wirkt organisch und einladend, was einen echten Sprung für die Serie darstellt.
Eine Geschichte, die berührt: Mehr als nur acht Orden
Abseits der Open World brilliert Karmesin & Purpur mit einer der emotionalsten und besten Story-Strukturen, die Pokémon je gesehen hat. Statt einer einzelnen, linearen Handlung gibt es drei verzweigte Pfade: den traditionellen Weg des Champs (Arenen), den Pfad der Legenden (Herrscher-Pokémon) und die Operation Starfall (Team Star). Jede dieser Geschichten hat ihre eigenen Höhepunkte und packenden Momente, die am Ende in einer epischen und überraschend emotionalen vierten Geschichte kulminieren. Besonders hervorzuheben sind die Charaktere: Arvens Suche nach den geheimen Kräutern, um sein Pokémon Koraidon/Miraidon zu heilen, bietet eine herzzerreißende und tiefgründige Motivation. Pennys Geschichte mit Team Star thematisiert Mobbing und Freundschaft auf eine unerwartet reife Weise. Selbst die Akademie in Mesalona City, mit ihren charmanten Lehrern und freiwilligen Kursen, trägt zur Immersion bei und lässt Paldea lebendig wirken. Die Charaktere sind vielschichtig und wachsen einem schnell ans Herz, was die Spielerbindung enorm stärkt.
Frischer Wind im Gameplay: Tera-Typisierung und mehr
Auch das Gameplay wurde sinnvoll erweitert. Die neue Tera-Typisierung ist eine fantastische Kampfmechanik, die den strategischen Tiefgang erhöht. Pokémon können temporär ihren Typ ändern und einen mächtigen Tera-Ausbruch entfesseln, was zu unvorhersehbaren Wendungen in Kämpfen führt und völlig neue Taktiken ermöglicht. Es ist eine der besten Gimmick-Mechaniken seit Mega-Entwicklungen. Hinzu kommen praktische Neuerungen wie der „Let’s Go”-Modus, der das Grinden vereinfacht, indem das erste Pokémon im Team selbstständig wilde Pokémon in der Nähe besiegt. Das Picknick-Feature bietet nicht nur eine nette Möglichkeit zur Interaktion mit den Pokémon, sondern auch praktische Buffs und eine neue Methode zur Zucht. Die TM-Maschine, mit der man Technische Maschinen aus gefundenen Materialien selbst herstellen kann, ist eine weitere willkommene Qualitätsverbesserung, die das Spielerlebnis spürbar bereichert.
Paldeas Pokémon-Vielfalt: Von Niedlich bis Mysteriös
Die Pokémon-Designs der neunten Generation sind, wie immer, Geschmackssache, aber insgesamt sehr gelungen. Von niedlichen Startern wie Felori und Kwaks bis hin zu markanten Neuzugängen wie Hefel oder Kolowal – Paldea bietet eine abwechslungsreiche und kreative Auswahl. Besonders spannend sind die neuen regionalen Formen (z.B. Paldea-Woingenau) und die mysteriösen Paradox-Pokémon, die eine faszinierende Verbindung zu Vergangenheit und Zukunft herstellen und die Lore von Paldea auf einzigartige Weise bereichern.
Gemeinsam unterwegs: Der Multiplayer-Aspekt
Ein weiterer großer Pluspunkt ist der deutlich verbesserte Multiplayer. Spieler können die Open World gemeinsam erkunden, Pokémon zusammen fangen, Tera-Raids bestreiten oder einfach nur die Landschaft genießen. Diese Möglichkeit, die Reise mit Freunden zu teilen, hebt das Koop-Erlebnis auf ein neues Level und macht die Erkundung von Paldea noch unterhaltsamer.
Die Schattenseiten: Eine technische Enttäuschung
Doch all die genialen Designentscheidungen und Gameplay-Innovationen wurden für viele Spieler von einer Reihe gravierender technischer Mängel überschattet. Diese Probleme führten zu der oft geäußerten Kritik, dass Pokémon Karmesin & Purpur unfertig und lieblos wirken würde.
Die Achillesferse: Technische Performance-Probleme
Der größte Kritikpunkt sind zweifellos die massiven Performance-Probleme. Das Spiel leidet unter konstant niedrigen Bildraten, die oft deutlich unter 30 FPS fallen und in belebten Gebieten oder bei komplexeren Effekten zu einem unerträglichen Ruckeln führen. Pop-ins, bei denen Pokémon oder Objekte aus dem Nichts erscheinen, sind allgegenwärtig und zerstören die Immersion. Die Ladezeiten für Texturen sind oft lang, sodass man unscharfe Oberflächen sieht, die sich erst nach mehreren Sekunden aufbauen. Diese technischen Unzulänglichkeiten sind besonders auf einer Konsole wie der Nintendo Switch, die bereits leistungsstärkere Spiele wie The Legend of Zelda: Breath of the Wild oder Xenoblade Chronicles 3 mit stabilerer Performance meistert, schwer zu verzeihen. Es wirkt, als ob die Engine und die Entwickler den ambitionierten Open-World-Ansatz nicht bewältigen konnten.
Grafik und Optik: Ein Schritt zurück?
Eng verbunden mit den Performance-Problemen ist die oft enttäuschende Grafik und Optik. Trotz des charismatischen Art-Designs wirken viele Texturen unscharf und detailarm. Die Umgebungen sind oft karg und repetitiv gestaltet, große Teile der Welt fühlen sich leer an. Die Weitsicht (Draw Distance) ist miserabel, was dazu führt, dass selbst größere Objekte und NPCs erst spät sichtbar werden. Vergleiche mit anderen Spielen auf der Switch lassen Karmesin & Purpur oft alt aussehen und werfen die Frage auf, ob Game Freak nicht genügend Ressourcen oder Zeit hatte, das Spiel grafisch auf ein angemessenes Niveau zu heben.
Bugs und Glitches: Die Komik des Unfertigen
Karmesin & Purpur ist notorisch für seine zahlreichen Bugs und Glitches. Charaktere, die durch den Boden clippen, Pokémon, die sich in Wänden verhaken, merkwürdige Kamerafahrten, unnatürliche Animationen oder gar Abstürze – die Liste der Fehler ist lang und teilweise skurril. Während einige dieser Fehler für einen Lacher sorgen können, brechen sie doch immer wieder die Immersion und zeugen von einer mangelhaften Qualitätssicherung. Viele dieser Probleme wurden auch nach den ersten Patches nur unzureichend behoben, was den Eindruck eines hastig veröffentlichten Spiels verstärkt.
Lieblose Details und leere Welten
Trotz der Open World wirken viele Städte und Dörfer leer und leblos. Die meisten Gebäude sind nicht betretbar, was einen Rückschritt im Vergleich zu früheren Pokémon-Titeln darstellt. NPCs stehen oft statisch herum und bieten kaum Interaktion über Standarddialoge hinaus. Es fehlt an kleinen, liebevollen Details und Interaktionsmöglichkeiten, die eine Welt wirklich lebendig wirken lassen. Diese mangelnde Detailverliebtheit lässt Paldea, abseits der packenden Story-Momente, oft wie eine hübsche, aber seelenlose Kulisse erscheinen.
Fazit: Wohin geht die Reise für Pokémon?
Pokémon Karmesin & Purpur ist ein Spiel voller Widersprüche. Auf der einen Seite steht eine bahnbrechende Open World, eine der besten und emotionalsten Geschichten der Serie und innovative Gameplay-Mechaniken, die frischen Wind in die Pokémon-Formel bringen. Diese Aspekte sprechen klar für einen „genialen Neustart“, der das Potenzial der Marke aufzeigt und mutige Schritte in die Zukunft wagt. Auf der anderen Seite stehen die unübersehbaren Performance-Probleme, die enttäuschende Grafik und die unzähligen Bugs, die das Spielerlebnis trüben und den Eindruck einer „technischen Enttäuschung“ hinterlassen. Es ist ein Spiel, das seine Spieler fasziniert und frustriert zugleich.
Die Debatte um Karmesin & Purpur zeigt, dass Game Freak an einer Gabelung steht. Die ambitionierte Vision für eine offene Welt ist da und sie funktioniert im Kern hervorragend. Doch die technische Umsetzung hinkt dieser Vision hoffnungslos hinterher. Viele Fans wünschen sich, dass Nintendo und Game Freak den Entwicklern mehr Zeit und Ressourcen für die Entwicklung zukünftiger Titel einräumen, um die technischen Mängel auszumerzen und die fantastischen Design-Ideen in einem polierten Gesamtpaket zu präsentieren. Karmesin & Purpur ist ein ungeschliffener Diamant – ein Meisterwerk im Kern, das aber dringend mehr Schleifarbeit benötigt hätte.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Serie weiterentwickelt. Doch eines ist sicher: Pokémon Karmesin & Purpur hat gezeigt, dass die Pokémon-Formel noch immer immense Möglichkeiten birgt, wenn man bereit ist, neue Wege zu gehen – auch wenn der Weg dorthin noch steinig ist.