Die Nacht ist ein mysteriöses Wesen. Sie birgt Geheimnisse, Träume und manchmal auch eine Flucht vor der drögen Realität des Tages. In der Welt der Anime gibt es unzählige Geschichten, die das Tageslicht meiden, doch nur wenige fangen die Essenz der Nacht so poetisch und gleichzeitig bodenständig ein wie Call of the Night (im Original: *Yofukashi no Uta*). Als dieser Vampir-Anime das Licht der Bildschirme erblickte, waren die Erwartungen groß. Ein moderner Ansatz des Vampir-Mythos, gepaart mit einer Coming-of-Age-Geschichte und einer Prise Romantik – konnte das funktionieren, oder würde es nur ein weiterer „lahmer Biss“ im überfüllten Genre sein? Wir haben uns kopfüber in die nächtliche Metropole gestürzt und verraten euch, wie wir die Serie wirklich finden.
Die Prämisse: Eine Ode an die Nacht und die Einsamkeit
Im Zentrum unserer Geschichte steht Kou Yamori, ein Mittelschüler, der die Schule geschmissen hat und unter hartnäckiger Schlaflosigkeit leidet. Sein Leben fühlt sich leer an, die Tage sind ein endloser Kreislauf aus Langeweile und Sinnlosigkeit. Eines Nachts beschließt er, aus seiner Wohnung zu schleichen und die Stadt unter dem Schleier der Dunkelheit zu erkunden. Hier, wo die Neonlichter tanzen und die Menschen sich von den Konventionen des Tages befreien, trifft er auf Nazuna Nanakusa – eine exzentrische, freigeistige und überraschend direkte Vampirin.
Kou ist fasziniert von Nazunas Lebensstil, ihrer Freiheit und der Art, wie sie die Nacht zelebriert. Er hegt den Wunsch, selbst ein Vampir zu werden, um diese neu entdeckte Freiheit und Lebensfreude zu erleben. Doch Nazuna erklärt ihm die einzige Bedingung: Damit er sich verwandelt, muss er sich in sie verlieben. Was folgt, ist keine typische, zuckersüße Romanze, sondern eine Erkundung der Nacht, der Freundschaft, der Einsamkeit und der komplexen Natur menschlicher (und vampirischer) Beziehungen. Diese ungewöhnliche Prämisse legt den Grundstein für eine Serie, die sich bewusst vom Mainstream abhebt. Es ist nicht nur eine Geschichte über Vampire, sondern eine Metapher für die Suche nach Identität und Zugehörigkeit in einer Welt, die oft überwältigend wirken kann. Die Nacht wird zu Kous Therapie, Nazuna zu seiner ungewöhnlichen Führerin in ein Leben, das er sich nie hätte vorstellen können.
Charaktere, die im Dunkeln leuchten
Die größte Stärke von Call of the Night liegt zweifellos in seinen Charakteren, insbesondere im dynamischen Duo Kou und Nazuna.
* Kou Yamori: Er ist kein typischer Protagonist. Kou ist introvertiert, reflektiert und oft überfordert von seinen eigenen Gefühlen. Seine Schlaflosigkeit ist ein Spiegelbild seiner inneren Unruhe und seiner Unfähigkeit, seinen Platz in der Welt zu finden. Durch seine nächtlichen Abenteuer und die Interaktionen mit Nazuna beginnt er langsam, sich zu öffnen, seine Emotionen zu verstehen und einen Sinn im Unsinn des Lebens zu finden. Seine Reise ist eine tiefgründige Erkundung der Adoleszenz, der Suche nach einem eigenen Weg und der Erkenntnis, dass Freiheit nicht immer gleichbedeutend mit Glück ist. Seine kindliche Naivität und gleichzeitige Sehnsucht nach etwas „Mehr” machen ihn unglaublich relatable.
* Nazuna Nanakusa: Sie ist das Herzstück der Serie. Nazuna ist unkonventionell, verspielt, oft derb in ihrer Sprache, aber unter ihrer rauen Schale verbirgt sich eine tiefe Melancholie und eine Unsicherheit, die sie selten zeigt. Als Vampirin hat sie unendlich viel Zeit, doch die Fähigkeit, Liebe zu empfinden, scheint ihr fremd zu sein – oder sie hat sie einfach noch nicht erfahren. Ihre Interaktionen mit Kou sind urkomisch, rührend und oft sehr aufschlussreich. Sie fungiert als Kous Mentorin in der Welt der Nacht, lehrt ihn aber auch Lektionen über das Leben, die weit über das bloße Überleben als Vampir hinausgehen. Nazunas Faszination für Manga und ihre manchmal unbeholfenen Versuche, Kou zu verstehen, verleihen ihr eine charmante Menschlichkeit, die man bei einem Vampir nicht unbedingt erwarten würde.
Auch die Nebencharaktere sind hervorragend geschrieben und tragen maßgeblich zur Tiefe der Geschichte bei. Akira Asai, Kous Kindheitsfreundin, die sich Sorgen um ihn macht; Mahiru Seki, der scheinbar perfekte Schüler, der ebenfalls seine eigenen nächtlichen Geheimnisse hat; und natürlich die anderen Vampire wie Seri Kikyou, Nico Hirata, Kabura Honda und Hatsuka Suzushiro. Jede dieser Figuren hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Beweggründe und bereichert Kous Verständnis von der Nacht, von Beziehungen und von dem, was es bedeutet, zu leben – oder zu existieren. Sie erweitern die Perspektiven und zeigen verschiedene Facetten des Vampir-Daseins, jenseits von Nazunas exzentrischer Persönlichkeit.
Visuelle Ästhetik und Animation: Ein Fest für die Augen
Wenn es einen Anime gibt, der die Schönheit der Nacht zelebriert, dann ist es Call of the Night. Das Animationsstudio LIDENFILMS (bekannt für *Tokyo Revengers*, *Hanebado!*) hat hier ganze Arbeit geleistet. Die visuelle Gestaltung ist schlichtweg atemberaubend. Die neonbeleuchteten Gassen, die stillen Parks, die dämmerigen Wohnungen – alles ist detailreich und atmosphärisch inszeniert. Die Farbpalette ist oft dunkel, aber gespickt mit leuchtenden Akzenten, die die Stadt lebendig wirken lassen. Besonders die Szenen, in denen Kou und Nazuna durch die Stadt schweben oder auf Hausdächern sitzen, vermitteln ein unglaubliches Gefühl von Freiheit und Weite.
Die Charakteranimationen sind flüssig und ausdrucksstark. Nazunas schelmische Grinse, Kous nachdenklicher Blick oder die dynamischen Bewegungen während der (seltenen) Actionsequenzen sind erstklassig. Die Art und Weise, wie Licht und Schatten eingesetzt werden, ist meisterhaft und trägt maßgeblich zur melancholischen und doch hoffnungsvollen Stimmung der Serie bei. Jeder Frame ist wie ein kleines Kunstwerk, das die Zuschauer in diese einzigartige nächtliche Welt eintaugt. Die Liebe zum Detail in der Darstellung der Stadt bei Nacht ist herausragend und schafft eine immersive Atmosphäre, die man selten in dieser Qualität sieht.
Der Soundtrack: Die Melodie der Nacht
Ein weiterer Glanzpunkt, der Call of the Night zu einem unvergesslichen Erlebnis macht, ist der Soundtrack. Die japanische Hip-Hop-Gruppe Creepy Nuts hat nicht nur die fantastischen Opening- und Ending-Songs („Daten” und „Yofukashi no Uta”) beigesteuert, die perfekt den Vibe der Serie einfangen, sondern ihre Musik ist auch integraler Bestandteil der Atmosphäre. Die Lieder sind energetisch, melancholisch und voller jugendlicher Melancholie, die Kous innere Welt widerspiegeln.
Aber auch die begleitende Hintergrundmusik ist superb. Sie ist subtil, aber wirkungsvoll, untermalt die stillen, nachdenklichen Momente ebenso wie die humorvollen oder spannenden Szenen. Die Musik schafft eine Stimmung, die gleichzeitig entspannend und aufregend ist, genau wie die Nacht selbst. Sie verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, die Freude an der neu gewonnenen Freiheit und die aufkeimende Zuneigung zwischen den Protagonisten. Der Soundtrack ist keine bloße Begleitung, sondern ein emotionales Rückgrat, das die narrative Tiefe der Serie nochmals verstärkt.
Thematische Tiefen: Mehr als nur Vampire und Romantik
Call of the Night ist weit mehr als eine einfache Vampir-Romanze. Die Serie wagt sich an komplexe Themen, die zum Nachdenken anregen:
* Einsamkeit und Verbindung: Sowohl Kou als auch Nazuna sind auf ihre Art einsam. Kou fühlt sich im Tageslicht fehl am Platz, Nazuna als Vampirin ist von der menschlichen Welt entfremdet. Ihre Beziehung ist ein Versuch, diese Kluft zu überwinden und eine einzigartige Verbindung zu schmieden.
* Die Suche nach dem Sinn: Kous Schlaflosigkeit ist ein Symptom seiner existenziellen Krise. Die Nacht wird zu seinem Forschungsfeld, wo er versucht, einen Sinn in seinem Leben zu finden, der über die gesellschaftlichen Erwartungen hinausgeht.
* Freiheit und Konvention: Die Nacht steht für Freiheit, die Abwesenheit von Regeln und Erwartungen. Kou entdeckt eine Welt, in der er er selbst sein kann, losgelöst von den Zwängen der Schule und des Alltags. Doch die Serie hinterfragt auch, ob wahre Freiheit in der Isolation liegt oder in der Fähigkeit, authentische Verbindungen einzugehen.
* Liebe und Intimität: Die Bedingung für Kous Verwandlung – sich in Nazuna zu verlieben – ist der Kern der Romantik. Doch die Serie zeigt, dass Liebe viele Formen hat und komplex sein kann. Es geht nicht nur um romantische Liebe, sondern auch um Freundschaft, Akzeptanz und das Verstehen der eigenen Emotionen.
* Das Erwachsenwerden: Kous Reise ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die zeigt, wie er durch seine Erfahrungen in der Nacht reift und mehr über sich selbst und die Welt lernt. Er beginnt zu verstehen, dass das Leben aus Grautönen besteht und nicht nur aus Schwarz und Weiß.
Was „Call of the Night” besonders macht (und warum es kein „lahmer Biss” ist)
Was macht Call of the Night zu einem echten Hype und nicht zu einem „lahmen Biss”?
Erstens seine einzigartige Interpretation des Vampir-Mythos. Hier sind Vampire keine bloßen Monster oder überzogene Romantiker. Sie sind Wesen, die eine andere Art des Lebens gewählt haben, mit ihren eigenen Sorgen und Freuden. Die Verwandlung durch Liebe ist eine poetische Wendung, die dem Genre eine frische Perspektive verleiht.
Zweitens der Fokus auf Atmosphäre und Charakterentwicklung statt auf einen rasanten Plot. Die Serie nimmt sich Zeit, die Charaktere zu erforschen, ihre Gefühle zu ergründen und die Schönheit der Nacht zu zelebrieren. Dies ist kein Anime für Action-Junkies, sondern für diejenigen, die meditative und stimmungsvolle Erzählungen schätzen.
Drittens die authentische Darstellung jugendlicher Verwirrung. Kous Gefühl der Entfremdung und seine Suche nach Bedeutung sind universell und ansprechend für ein breites Publikum, das sich jemals unwohl oder fehl am Platz gefühlt hat.
Viertens die erfrischende Romantik. Die Beziehung zwischen Kou und Nazuna ist langsam, zögerlich und voll von charmanten Missverständnissen. Sie ist weit entfernt von klischeehaften Liebesgeschichten und fühlt sich dadurch umso realer an. Es ist ein Tanz des Kennenlernens, des Auslotens von Grenzen und der vorsichtigen Annäherung zweier Seelen.
Und schließlich der Mut zur Melancholie. Die Serie scheut sich nicht davor, die stillen, oft traurigen Momente zu umarmen, die das Leben bereithält. Sie zeigt, dass auch in der Traurigkeit und Einsamkeit eine gewisse Schönheit und eine Chance für Wachstum liegen kann. Es ist eine Feier der nächtlichen Stille und der Selbstreflexion, die diese mit sich bringt.
Kritische Betrachtung: Wo vielleicht doch ein Zahn fehlt
Trotz all seines Glanzes ist Call of the Night nicht perfekt für jeden Geschmack. Wer einen actiongeladenen Vampir-Anime mit einem klaren Ziel und schnellem Plot-Fortschritt erwartet, könnte enttäuscht werden. Die Serie ist eher ein „Slice of Life” mit übernatürlichen Elementen. Das Pacing ist oft langsam und meditativ, was für manche Zuschauer als langweilig empfunden werden könnte. Der Fokus liegt auf den täglichen (oder besser gesagt, nächtlichen) Interaktionen und der inneren Reise der Charaktere, weniger auf einem übergeordneten Konflikt oder einer linearen Handlung.
Auch das Ende der ersten Staffel lässt viele Fragen offen und bietet keinen wirklichen Abschluss, was typisch für Anime-Adaptionen von laufenden Manga ist. Dies kann frustrierend sein für Zuschauer, die eine abgeschlossene Geschichte bevorzugen. Die tiefgründigen Themen und die subtile Charakterentwicklung erfordern ein gewisses Maß an Geduld und Offenheit, um sie vollends zu würdigen.
Fazit: Unser Urteil – Ein Biss, der haften bleibt
Also, Vampir-Hype oder lahmer Biss? Für uns ist die Antwort eindeutig: Call of the Night ist definitiv ein faszinierender Hype, ein Biss, der haften bleibt und den man nicht so schnell vergisst. Es ist ein einzigartiges Werk, das die Grenzen des Romantik-Anime und des Vampir-Genres auf erfrischende Weise neu definiert. Es ist eine liebevolle Hommage an die Nacht, an die Einsamkeit und an die Entdeckung von sich selbst und anderen.
Mit seiner atemberaubenden Optik, dem fesselnden Soundtrack und den tiefgründigen Charakteren bietet Call of the Night ein unvergessliches Seherlebnis. Es mag nicht jedermanns Sache sein, besonders für diejenigen, die schnelle Action und klare Plotlines bevorzugen. Aber wer bereit ist, sich auf eine langsame, atmosphärische Reise einzulassen, wer die Poesie der Nacht schätzt und wer eine Geschichte über die Komplexität menschlicher Beziehungen sucht, der wird in diesem Anime eine echte Perle finden.
Wir können Call of the Night jedem wärmstens empfehlen, der nach etwas Einzigartigem, Visuell Beeindruckendem und emotional Tiefgründigem sucht. Lasst euch von Kou und Nazuna in die Schönheit und Melancholie der nächtlichen Metropole entführen. Es ist ein Biss, der süchtig macht und einen bleibenden Eindruck hinterlässt.