Ein Zeugnis – ob Schulzeugnis, Arbeitszeugnis oder Ausbildungszeugnis – ist mehr als nur eine Auflistung von Noten und Tätigkeiten. Es ist ein formuliertes Dokument, das eine Beurteilung der Leistung, des Verhaltens und der Fähigkeiten einer Person darstellt. Doch nicht immer ist auf den ersten Blick erkennbar, ob ein Zeugnis wirklich gut ist. Oftmals verstecken sich hinter wohlklingenden Formulierungen versteckte Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. In diesem Artikel zeigen wir Ihnen, wie Sie zwischen den Zeilen lesen und ein Zeugnis richtig interpretieren können.
Die Grundlagen verstehen: Was macht ein gutes Zeugnis aus?
Bevor wir uns mit den Feinheiten der Zeugnissprache beschäftigen, ist es wichtig, die grundlegenden Elemente eines guten Zeugnisses zu verstehen:
* **Vollständigkeit:** Ein gutes Zeugnis sollte alle wesentlichen Aspekte der Tätigkeit oder Leistung abdecken. Dazu gehören eine genaue Beschreibung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten, eine Beurteilung der Leistung und des Verhaltens, sowie Angaben zu Soft Skills und besonderen Fähigkeiten.
* **Wohlwollende Formulierung:** Zeugnisse sind grundsätzlich wohlwollend formuliert. Das bedeutet, dass sie die positiven Aspekte hervorheben und negative Aspekte eher umschreiben oder aussparen.
* **Klarheit und Präzision:** Die Formulierungen sollten klar und präzise sein, damit sie eindeutig interpretiert werden können. Vermeiden Sie vage oder allgemeine Aussagen.
* **Individualität:** Ein gutes Zeugnis sollte auf die individuelle Person und ihre spezifischen Leistungen zugeschnitten sein. Standardformulierungen sollten vermieden werden.
Die Zeugnissprache: Versteckte Botschaften und Codes
Die Zeugnissprache ist bekannt für ihre subtilen Formulierungen, die oft als „Geheimcode” bezeichnet werden. Diese Codes dienen dazu, negative Aspekte zu umschreiben, ohne den rechtlichen Rahmen der Wohlwollenheitspflicht zu verletzen. Hier sind einige typische Beispiele:
* **”Er/Sie war stets bemüht…”:** Diese Formulierung ist ein Klassiker unter den negativen Zeugnisformulierungen. Sie bedeutet in der Regel, dass die Person sich zwar angestrengt hat, aber die gewünschten Ergebnisse nicht erzielt wurden. „Stets bemüht” ist ein Euphemismus für mangelnde Leistung.
* **”Er/Sie hat die Aufgaben ordnungsgemäß erledigt…”:** Auch diese Formulierung klingt zunächst positiv, ist aber eher neutral. Sie bedeutet, dass die Person die Aufgaben zwar erledigt hat, aber keine herausragenden Leistungen erbracht hat.
* **”Er/Sie war pünktlich und fleißig…”:** Diese Aussage konzentriert sich auf die Arbeitsmoral und Pünktlichkeit, sagt aber nichts über die Qualität der Arbeit aus. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die Person zwar zuverlässig war, aber fachlich Defizite hatte.
* **”Er/Sie zeigte Verständnis für die Aufgaben…”:** Diese Formulierung deutet an, dass die Person die Aufgaben zwar verstanden hat, aber nicht in der Lage war, sie erfolgreich umzusetzen.
* **Fehlende Aussagen:** Was nicht erwähnt wird, kann genauso aussagekräftig sein wie das, was gesagt wird. Fehlen beispielsweise Aussagen zur Eigeninitiative, zur Teamfähigkeit oder zu besonderen Erfolgen, kann dies als negativ interpretiert werden.
Die Bedeutung der Notenskala im Arbeitszeugnis
Auch wenn im Arbeitszeugnis keine Noten im klassischen Sinne vergeben werden, gibt es eine implizite Notenskala, die durch bestimmte Formulierungen ausgedrückt wird. Diese Skala reicht von „sehr gut” bis „ungenügend”:
* **”…stets zu unserer vollsten Zufriedenheit…”:** Dies entspricht der Note „sehr gut”.
* **”…stets zu unserer vollen Zufriedenheit…”:** Dies entspricht der Note „gut”.
* **”…zu unserer Zufriedenheit…”:** Dies entspricht der Note „befriedigend”.
* **”…im Allgemeinen zu unserer Zufriedenheit…”:** Dies entspricht der Note „ausreichend”.
* **”…war bemüht…”:** Dies entspricht der Note „ungenügend”.
Aufbau und Struktur eines Zeugnisses: Worauf Sie achten sollten
Der Aufbau und die Struktur eines Zeugnisses können ebenfalls Aufschluss über die Qualität geben. Ein gutes Zeugnis sollte in der Regel folgende Elemente enthalten:
1. **Überschrift:** Die Überschrift sollte klar und eindeutig sein, z.B. „Arbeitszeugnis” oder „Ausbildungszeugnis”.
2. **Angaben zur Person:** Name, Geburtsdatum und Adresse der Person.
3. **Angaben zum Unternehmen:** Name und Adresse des Unternehmens.
4. **Dauer der Beschäftigung:** Beginn und Ende der Beschäftigung.
5. **Beschreibung der Tätigkeit:** Genaue Beschreibung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten.
6. **Beurteilung der Leistung:** Beurteilung der fachlichen Kompetenzen, der Arbeitsweise und der erreichten Ergebnisse.
7. **Beurteilung des Verhaltens:** Beurteilung des Verhaltens gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Kunden.
8. **Besondere Fähigkeiten und Kenntnisse:** Hervorhebung besonderer Fähigkeiten und Kenntnisse.
9. **Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses:** Angabe des Grundes für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
10. **Schlussformel:** Dank für die geleistete Arbeit und Wünsche für die Zukunft.
11. **Datum und Unterschrift:** Datum der Ausstellung und Unterschrift des Ausstellers.
Achten Sie darauf, ob alle diese Elemente vorhanden sind und ob sie in einer logischen Reihenfolge angeordnet sind. Fehlen wichtige Elemente oder sind die Formulierungen unklar oder widersprüchlich, kann dies ein Hinweis auf ein negatives Zeugnis sein.
Checkliste: So analysieren Sie ein Zeugnis richtig
Um ein Zeugnis richtig zu analysieren, können Sie folgende Checkliste verwenden:
* **Vollständigkeit:** Sind alle wesentlichen Aspekte der Tätigkeit abgedeckt?
* **Wohlwollenheit:** Sind die Formulierungen wohlwollend?
* **Klarheit:** Sind die Formulierungen klar und präzise?
* **Individualität:** Ist das Zeugnis auf die individuelle Person zugeschnitten?
* **Zeugnissprache:** Welche Codes werden verwendet?
* **Notenskala:** Welche Note wird implizit vergeben?
* **Aufbau und Struktur:** Ist das Zeugnis logisch aufgebaut?
* **Fehlende Aussagen:** Was wird nicht erwähnt?
* **Schlussformel:** Ist die Schlussformel positiv formuliert?
Die Schlussformel: Ein wichtiger Indikator
Die Schlussformel ist ein wichtiger Indikator für die Gesamtbewertung eines Zeugnisses. Eine positive Schlussformel bedankt sich für die geleistete Arbeit und wünscht der Person alles Gute für die Zukunft. Eine neutrale oder negative Schlussformel kann hingegen ein Zeichen für Unzufriedenheit sein.
* **Positive Schlussformel:** „Wir bedanken uns für die stets gute Zusammenarbeit und wünschen Herrn/Frau… für die Zukunft alles Gute und viel Erfolg.”
* **Neutrale Schlussformel:** „Wir bedanken uns für die geleistete Arbeit und wünschen Herrn/Frau… alles Gute für die Zukunft.”
* **Negative Schlussformel:** „Wir wünschen Herrn/Frau… alles Gute für die Zukunft.” (Ohne Dank für die geleistete Arbeit)
Was tun, wenn das Zeugnis schlecht ist?
Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Zeugnis schlecht ist, haben Sie das Recht, Einspruch einzulegen und eine Korrektur zu verlangen. Sprechen Sie zunächst mit Ihrem ehemaligen Arbeitgeber und versuchen Sie, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Wenn dies nicht möglich ist, können Sie rechtliche Schritte einleiten. Ein Anwalt für Arbeitsrecht kann Ihnen dabei helfen, Ihre Rechte durchzusetzen. Es ist ratsam, sich frühzeitig um das Zeugnis zu kümmern, da es für zukünftige Bewerbungen von großer Bedeutung ist. Ein gutes Zeugnis ist ein wertvolles Dokument, das Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt deutlich erhöhen kann.
Fazit: Die Kunst des Zeugnislesens
Das Lesen zwischen den Zeilen eines Zeugnisses erfordert Übung und ein gutes Verständnis der Zeugnissprache. Indem Sie die hier genannten Tipps und Tricks beachten, können Sie die versteckten Botschaften entschlüsseln und ein Zeugnis richtig interpretieren. Denken Sie daran, dass ein Zeugnis ein wichtiges Dokument ist, das Ihre berufliche Laufbahn beeinflussen kann. Nehmen Sie sich daher die Zeit, es sorgfältig zu prüfen und bei Bedarf Einspruch einzulegen.